Lektüre:
sans phrase – Zeitschrift für Ideologiekritik, Heft 12
In seinem Aufsatz „Trotzki ist kein Jude“ zeichnet Olaf Kistenmacher ein Bild des Antisemitismus in Russland nach der Oktoberrevolution und man versteht, warum linke Bewegungen bis heute ein Problem mit Antisemitismus und Antizionismus haben. Auch wenn der Kommunismus international gedacht war (Arbeiter aller Länder vereinigt euch) und Marx selbst ein Jude, so konnte doch die gewaltsame Einführung des Sozialismus in Russland nicht den vorherrschenden Antisemitismus aus den Köpfen der Menschen vertreiben, auch wenn er in der Theorie bekämpft wurde. Da Judenhass sich aber nicht auf rationelle Überlegungen zurückführen lässt und auch nicht durch Neueinordnung etwaiger negativer persönlicher Erfahrungen (die es in 99,99 % der Fälle nicht gibt) in zumindest neutrale Gefühle verwandeln lässt, stößt hier alle Theorie an seinen Grenzen. Wer im zaristischen Russland ein Antisemit war, der war es dann auch unter sowjetischer Herrschaft und hat dieses Erbe ungeschwächt weitergetragen.
Hinzu kam, dass der ausgerufene Klassenkampf ein Kampf gegen den Kapitalismus war und man mit diesem oftmals den „Juden“ assoziierte, der im Geheimen die Strippen der Geldmacht zog. Selbst als während des Zweiten Weltkrieges offensichtlich wurde, dass die europäischen Juden nur durch einen Sieg der Alliierten vor der vollständigen Auslöschung bewahrt werden konnten und die Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Staates mehr als evident war, verweigerte sich die linke Ideologie dieser Denkweise, weil es einen Sieg des westlichen Imperialismus bedeutete. Da es vor allem die USA waren, die Israel vom Tag seiner Gründung an unterstütze, fand im Denken vieler Linker eine Gleichsetzung der verhassten kapitalistischen Großmacht mit dem jüdischen Staat statt, die bis heute anhält und man bereit ist, das Existenzrecht Israels (und damit das Leben seiner gesamten jüdischen Bevölkerung) in Frage zu stellen und sich auf die Seite derer stellt, die zum Ziel haben, jeden Juden im Nahen Osten zu töten. Natürlich wird diese Haltung als eine Form des Antisemitismus bestritten, sondern „berechtigte Israelkritik“ genannt, die Mutigeren bezeichnen sich noch als Antizionisten. Wer aber, so schreibt Karl Pfeiffer am Ende seines Artikels „Spartakus gegen Zion“, Israel, das hunderttausenden Holocaustüberlebenden eine neue Heimat geboten und Millionen von Juden integriert hat, boykottieren oder gar liquidieren (die Ein-Staat-Lösung) will, der ist Antisemit.
Uwe Johnson – Jahrestage
Die Gruppe 47 war für mich lange Zeit ein Faszinosum und ich versuchte so viel wie möglich über diese Gruppe und von den Autoren, die ihr damals angehörten zu lesen. Nicht einmal vor Peter Handke machte ich halt. Der einzige, der unter diesem Radar blieb war Uwe Johnson und ich kann gar nicht sagen, warum es bisher nur zu dem sporadischen Anlesen von „Mutmaßungen über Jakob“ gereicht hat, obwohl das Buch seit gut zwei Jahrzehnten in meinem Bücherregal steht.
Vor einiger Zeit las ich dann, dass eine Neuübersetzung ins englische von Johnsons Jahrestagen herausgebracht wurde und da erinnerte ich mich, oder wurde neugierig. Also erstand ich die einbändige, 1.700 Seiten umfassenden Suhrkamp-Ausgabe der Jahrestage und lese nun, wenn es geht, pro Tag einen Tag. Bis Ende nächsten Jahres sollte ich also damit durch sein. Ich habe keine Erwartungen an dieses Buch, außer, dass es mich in das Jahr zurückbringt, in dem ich geboren wurde und mich mit einem Erzählen konfrontieren wird, das ich so noch nicht kenne.
Alte Männer
Wenn ich beim samstäglichen Einkauf die alten Männer sehe, die selbst bei Regen oder Schnee vor dem Kaffee neben dem Supermarkt sitzen, rauchend und redend, grauhaarig, der eine mit Toupet, der andere mit fleckigem Gesicht, ein weitere in verbeulten und unsauberen Jogginghosen, der nächste mit schnittiger Cord Weste über den prallen Bauch gespannt, dann denke ich mir, so möchtest du nicht werden. Das ist, was die älteren Herren betrifft nicht abwertend gemeint, ich kann mir mich nur nicht so vorstellen, so unwiderruflich alt, dass man es selbst mit der allergrößten Willenskraft nicht mehr leugnen könnte. Dabei weiß ich, sollte ich so alt werden wie diese Herren, bin ich bestimmt froh überhaupt noch da zu sein. Fehlendes Haupthaar, Altersflecken und eine aus den Fugen geratene Figur werden mich nicht annähernd so stören, wie jetzt in meiner Vorstellung. Dabei sind dies nur Statthalter, Sinnbilder des Verfalls und des Verfliegens der Zeit, die mit jeder Sekunde ein Stück von uns mitnimmt, obwohl wir es so ungern hergeben. Meine Abwehr ist eine hilflose und pathetische Geste und hat mit dem sprichwörtlichen „in Würde altern“ so gar nichts zu tun. Wobei sich die Frage stellt, ab wann man denn in Würde zu altern hat. Ab 50 oder erst ab 70. Womöglich ist dieses „in Würde altern“ kein Prozess, sondern nur ein Ergebnis. Man sieht den selbstzufriedenen älteren Menschen und folgert aus dem Anblick. Seine innere Verzagtheit sieht man ihm nicht an.
Ich denke, meine größte Angst ist der Verlust der Selbstverständlichkeit und wenn ich die älteren Männer beobachte, dann sehe ich mich wie sie, nur ohne mich. Es ist eine Mischung aus dem Überfluss an Vorstellungskraft und dem völligen Fehlen von Identifikation. Die einzige Lösung des Problems scheint zu sein, nicht darüber nachzudenken und davon auszugehen, sowieso nie so alt zu werden. Dann werde ich in zwanzig oder dreißig Jahren zwar nicht in Würde gealtert sein, aber freudig überrascht.
Blutwurst
Die Deutsche Islamkonferenz 2018 hat viele Gründe für eine kritische Auseinandersetzung geboten. Nicht zuletzt das Catering. War unter dem reichhaltigen Fingerfood-Angebot doch auch Blutwurst vom Schwein. Unsensibel, so die einen, kein Grund sich aufzuregen, denn es gab ja nicht nur Blutwurst, die anderen. Manche halten es für ein Zeichen gelungener Integration, wenn sich nun Muslime über dieses Essensangebot empören, immerhin sei eine solche Reaktion typisch deutsch. Ich halte es eher für eine typische Reaktion von Menschen, die in einem Ideologienetz gefangen sind, was ihnen den Blick über den eigenen Tellerrand unmöglich macht. Und damit meine ich nicht nur diejenigen, die das Essen von Schweinefleisch aus religiösen Gründen ablehnen, sondern auch solche, die meinen, man müsse auf religiöse Gefühle unbedingt Rücksicht nehmen, als handele es sich dabei um ein schützenswertes und von allen Seiten bedrohtes Gut und es sei die Verpflichtung einer demokratischen Gesellschaft, ihr ungestörtes Fortbestehen zu sichern.
Dabei sind jene religiösen Gefühle, die sich so leicht verletzten lassen Ausdruck eines schwachen theologischen Innenlebens und einer Überzeugungsarmut, die ständig nach Fütterung durch die Bestätigung von außen lechzt. In meiner Zeit als aktiver christlicher Fundamentalist wurde ich wegen unserer offensiven Missionierungstätigkeit oftmals persönlich beleidigt. Meine religiösen Gefühle aber hat das nie verletzt, weil mein Selbstverständnis als Christ davon nie berührt wurde. Wir suchten nicht nach Anerkennung, sondern nach neuen Jüngern für die Sekte. Religionen aber, die auf der einen Seite hartnäckig an einem altertümlichen und völlig überholten Weltbildern festhalten, auf der andern Seite aber ihren Platz in einer modernen Gesellschaft behaupten wollen, setzen ihre Mitglieder einem inneren Zwiespalt aus, den sie nur durch eine aggressive Verteidigungshaltung kompensieren können. Jede Kritik oder jede gefühlte Missachtung der eigenen Anschauung wird so zum Angriff auf die eigene Person und/oder Gruppe und wird persönlich genommen. Und wenn es nur eine blöde Wurst ist, die zu essen niemand gezwungen wurde.
Um ein solches, von den eigentlichen Problemen, welche die diesjährige DIK aufgeworfen hat, ablenkendes Vorkommnis zukünftig zu vermeiden, schlage ich für die nächste Konferenz vor, das Catering von einem der muslimischen Verbände organisieren zu lassen, und nicht von irgendeinem Mitarbeiter des Innenministeriums oder das BaMF, der das wahrscheinlich fünf Mal die Woche macht und sowieso weiß, dass für alle etwas dabei ist, vom Veganer, über den religiösen Diätiker bis hin zum urbayerischen Porcuvoren.