The Ballad of Buster Scruggs
Die Coen-Brüder machen Filme, die anzusehen sich wirklich lohnt und das genau Gegenteil von der Massenware sind, die über die gängigen Streaming-Portale ausgeschüttet wird. Dass ihr neuester Film nun auch bei Netflix erscheint entbehrt nicht einer gewissen Ironie, ist aber letztlich nur ein Zeichen für den Wandel der Filmindustrie. Und auch die Coen-Brüder werden mit ihrer Arbeit Geld verdienen wollen.
The Ballad of Buster Scruggs ist jedenfalls ein herrlicher, teilweise absurder, immer ironischer und sehr gewaltsamer Episodenfilm. Seitenhiebe auf die derzeitige politische Situation in den USA inklusive. Aber wie auch immer man diesen Film einschätzen und auch beurteilen mag, er zeigt mir einmal mehr, wie Geschichten erzählt werden können, wie unsinnig oftmals der Griff nach dem Epischen und weit Ausgeholten ist, kann man doch auf kurzer Strecke ebenso Welten erschaffen, manchmal sogar komplexere und mit weit vielfältigeren Rezeptionsangeboten.
Mein Favorit unter den Geschichten: Der Schausteller, dessen Attraktion in einem jungen Mann ohne Arme und Beine besteht, der allabendlich vor mehr oder weniger gelangweiltem Publikum Shakespeare und Abraham Lincoln zitiert. Immer mit dem gleichen melancholischen Enthusiasmus, egal ob zwei oder zwanzig Leute zuhören. Die Einnahmen aber sind karg und als dem Schausteller ein Huhn mit Rechenkenntnissen angeboten wird, wirft er den jungen Mann in einen Fluss und macht sich fortan mit dem Huhn auf Reisen.
Man kann, aber muss das nicht interpretieren. Die Geschichte an sich hat so viel Wucht, so viele Kanten, die sich an der Erlebniswelt des Betrachters brechen, dass man nicht nach Bedeutungsebenen zu suchen braucht.
Nur die letzte der sechs Geschichten schert in dieser Hinsicht ein wenig aus und erschließt sich einem erst dann, wenn man versteht, dass jene fünf Personen, die sich in einer Kutsche befinden (die, auch wenn man es dem Kutscher befiehlt, nicht anhält) eigentlich gerade über den Styx gerudert werden und jene abgelegene Herberge, an der sie alle aussteigen, ihren Ankunftsort in der Hölle darstellt.
Es gibt Filmemacher, die einen so gut wie nie enttäuschen. Neben Inarritu und Tarantino, gehören die Coen-Brüder ebenfalls dazu.
Der Missionar und die Wilden
Im Golf von Bengalen gibt es eine kleine Insel, die zu betreten von der indischen Regierung verboten wurde, weil dort ein indigener Stamm lebt, der Ende des 19. Jahrhunderts einige schlechte Erfahrung mit Besuchern aus der sogenannten Zivilisation gemacht hatte und seitdem jeden, der sich ihrer Insel nähert, Pfeile ins Herz bohrt. So auch einem jungen christlichen Missionar und man kommt nicht umhin, diesen, auf Fotos durchaus sympathischen wirkenden, Menschen noch im Tode spazierenwatschen zu wollen ob seiner Naivität, Dummheit und Selbstüberschätzung. War ihm die Gefährlichkeit seiner selbstauferlegten Mission doch durchaus bekannt. Und auch wenn es mir um den armen Kerl nicht wirklich leidtut, weil die Welt mit jedem religiösen Eiferer, der von ihr verschwindet ein wenig besser dran ist, so kann ich es dennoch nachempfinden, was ihn angetrieben hat. Immerhin war auch ich einmal ein Soldat Christi und als solcher bereit für den wahren Glauben zu sterben. Heute aber erscheint mir das als eine unglaubliche Verschwendung von Energie, Geld, Zeit und, wie im besagten Falle, von Leben.
Überhaupt – diese Hybris. Zählt der Hochmut zwar zu den Todsünden, sind doch vor allem die Eiferer und Märtyrer von ihm durchdrungen, denken sie doch, sie hätten so ein spezielles Verhältnis zu ihrem Gott, dass dieser für sie nötigenfalls die Naturgesetzte beugen oder sie nach ihrem qualvollen Dahinscheiden, in der nächsten Welt mit unaussprechlichen Herrlichkeiten belohnen würde. Woher wollen sie wissen, dass es Gott nicht lieber gewesen wäre, wenn sie zu Hause geblieben und einer alten Frau beim Einkaufen geholfen hätten, statt auf entlegenen Inseln über den Haufen geschossen zu werden, noch bevor man überhaupt Jesus, Gott oder Bibel sagen konnte? Zwar reden sie ständig von Gott, aber im Grunde dreht es sich nur um sie selbst. Gott, das ist nur der Rahmen, in den sie ihr Ego gießen, auf dass es strahle und zur Geltung komme. Was noch hinzukommt: Wer bereit ist, sein Leben für einen Gott zu opfern, der ist auch schnell bereit, andere auf diesem Weg mitzunehmen.
Ein wesentlich interessanterer Aspekt betrifft allerdings jene „Wilden“, dieses obskure Inselvolk von North Sentinel. Deren handfeste Fremdenfeindlichkeit hat den Vorteil, unter Artenschutz zu stehen. Und wer angesichts dieser Anthropofossilien von „Bewahren“ und „Ursprünglichkeit“ redet, der soll sich wenigstens eingestehen, dass das, was er auf der einen Seite schützen will, das ist, was an anderen Fronten bekämpft wird. Scheinbar muss man nur klein oder ursprünglich genug sein, um einen Freibrief zu bekommen, was die Missachtung allgemein geschätzter zivilisatorischer Errungenschaften angeht. In den achtziger Jahren strandete ein Frachter vor North Sentinel und es ist nur einem kräftigen Sturm zu verdanken, dass die Besatzung mit Hubschraubern gerettet werden konnte, bevor die Boote der Inselbewohner das Schiff erreichen und diese den Matrosen ihre übliche Willkommensbotschaft ins Herz jagen konnten.
Natürlich haben diese Inselbewohner Grund skeptisch zu sein, was Fremde angeht. Das haben wir in unserer wesentlich zivilisierteren Welt auch. Allerdings haben wir gelernt, dass den Gegenüber deswegen gleich zu töten kein Problem löst, sondern nur weitere schafft. Zivilisation ist die Überwindung der tief im Menschen angelegten Instinkte, aus dem Wissen heraus, dass in dieser Überwindung ein Mehrwert für alle steckt. Zivilisation ist die Fähigkeit, über den Tellerrand der überschaubaren Gruppe (bei Menschen zwischen 100 und höchstens 150 Personen) hinauszublicken und in der Andersartigkeit nicht sofort eine Bedrohung zu sehen, sondern, sofern man sich auf die Grundregeln des Zusammenlebens (aka Menschenrechte) einigen kann, eine Bereicherung. Deswegen ist Zivilisation anstrengend, weil es eine intellektuelle Kraftanstrengung erfordert, die in erster Linie politisch und sozial motiviert ist. Fallen diese Motivationen weg – wie wir es momentan in fast der gesamten westlichen Welt beobachten können – dann erodieren die zivilisatorischen Errungenschaften nach und nach und das Primitive, das genuin Menschliche schlägt wieder durch.
Ein Eingeborenenstamm auf einer einsamen Insel, der jeden Fremden aus Furcht tötet, bereichert diese Welt genauso wenig, wie Kulturen, die sich Ideologien unterwerfen, die nur an das im Menschen ursprünglich angelegte appellieren und der Weiterentwicklung des Homo Sapiens hin zu einer echten Zivilisation im Wege stehen.
Lektüre:
Bloodlands – Timothy Snyder
Die Bloodlands erstrecken sich von Zentralpolen bis nach Weißrussland, einschließlich der Ukraine und den baltischen Staaten. In dieser Region wurden zwischen 1933 und 1945 etwa 14 Millionen Menschen ermordet. Und bei dieser Zahl handelt es sich nur um Zivilisten. Sie alle wurden Opfer des Stalinismus und der Naziherrschaft unter Adolf Hitler.
Man sollte sich ab und zu diese Zahl vor Augen halten, um nicht zu vergessen wozu der Mensch fähig ist. Und da reicht es nicht, nur mit dem Finger auf Stalin und Hitler zu zeigen. Diese alleine hätten es nicht geschafft so viele Leben zu nehmen. Das ging nur mit Hilfe eines Großteils der jeweiligen Gesellschaft, über die sie herrschten. Und diese Hilfe war leicht zu haben. Sie brauchten nur an die im Menschen durch die Evolution verankerten Instinkte appellieren, indem sie Ängste schürten und Ressentiments nährten.
Dass die Menschen aus dieser Erfahrung nichts gelernt haben und diese 14 Millionen Menschen tatsächlich völlig sinnlos und umsonst gestorben sind, können wir heute beobachten, wenn in demokratischen Wahlen Demagogen an die Macht kommen, deren Misogynie und Fremdenfeindlichkeit, deren Hass auf Minderheiten und Randgruppen ihren Wählern durchaus bekannt ist, sie sich aber in der über sie ausgeschütteten Abgrenzungsrhetorik geborgen und zu Hause fühlen.
Was wir heute erleben, ist der erneute Ausruf des Kampfes ums Überleben, der es, um ihn gewinnen zu können, erforderlich macht, zivilisatorische Errungenschaften beiseite zu schieben. Zivilisation, das ist die Überwindung des reinen Existenzkampfes und das Investieren der so gesparten Energien und Ressourcen in ein besseres Leben für möglichst viele Menschen. Deswegen geht die Konzentration auf den Überlebenskampf immer mit einem Verlust von Lebensqualität anfangs, und mittel- bis langfristig mit dem Verlust von Lebensgrundlagen einher. Wo die nächsten Bloodlands sein werden, weiß man noch nicht zu sagen. Dass es sie, wird die derzeitige politische Fallrichtung nicht umgelenkt, wieder geben wird, ist gewiss.
Wer sein Kind liebt, der spart die Rute nicht (Buch der Sprüche 13:24)
Noch so ein Zivilisationsding: Der Jahresbericht „Beziehungsgewalt“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (hey, wo sind die Männer hier zwischen Jugend und Senioren? Brauchen die kein eigenes Ministerium, weil sowieso fast alle Ministerien fest in Männerhand sind? Oder liegt es daran, dass die im Ministeriumsnamen zusammengefassten Bevölkerungsgruppen am meisten unter der Politik zu leiden haben, die eben diese Männer hauptsächlich zu verantworten haben? Wäre es nicht besser, die Verursacher mehr zu kontrollieren und zu reglementieren, als nur den Schaden zu managen, den sie Tag für Tag anrichten?) wurde veröffentlich und für ein wenig Alarmstimmung gesorgt, weil es nicht wirklich besser geworden ist, die häusliche Gewalt betreffend. Schlechter zwar auch nicht, auch wenn es durch die Bedeutungserweiterung des Terminus „Gewalt“ so aussieht.
Fakt aber ist: Das Zuhause ist für viele Frauen und noch viel mehr Kinder (die erleben nämlich die Gewalt von Vater- und Mutterseite her) der gefährlichste Ort. Was zeigt, das zivilisiertes Benehmen bei vielen nicht fester Bestandteil ihres Charakters ist, sondern nur wie ein Kleidungsstück übergeworfen wird, wenn man das Haus verlässt. Beim Zurückkommen wird es schnell abgestreift und man ist wieder ganz Urzeitmensch, der widerstandslos seinen Gefühlen und Stimmungen ausgesetzt ist und sich nur über Handgreiflichkeiten zu artikulieren weiß.
Zivilisatorische Hemmer dabei sind, wieder einmal, die Religionen, allem voran das Christentum und der Islam. In Bibel wie im Koran ist Gewalt eine Lösung. Auch häusliche. Beide Bücher sind durchtränkt von einer patriarchalischen Weltanschauung, in der Frauen, Kinder und Tiere Eigentum des Mannes sind und seine Regeln zu befolgen haben. Spuren sie nicht, setzt es Hiebe. Oder schlimmeres.
Zum Thema häusliche Gewalt und wie sie eine Gesellschaft prägen kann, empfehle ich Michael Hanekes Film „Das weiße Band“. Auch wenn dieser Film am Vorabend des Ersten Weltkrieges spielt, so zeigt er doch, wie diejenigen aufwuchsen, die zwanzig Jahre später lauthals „Heil Hitler“ riefen und bereitwillig in die Bloodlands strömten, um zu töten, was ihrer Meinung nicht zu leben verdiente.
Der Umstand, dass häusliche Gewalt, vor allem gegen Kinder, immer noch ein großes Problem in unserer Gesellschaft darstellt zeigt, wie verletzlich sie noch immer ist und wie zerbrechlich das, was man, oftmals viel zu leichtfertig, als zivilisiert bezeichnet.