Karl-Heinz Ott, Hölderlins Geister, Hanser
Von Hölderlin wusste ich bisher nur, was man bei der Beschäftigung mit deutscher Literaturgeschichte nebenbei aufschnappt: Lyriker mit Hang zum Elegischen, zu Lebzeiten eher verkannt und in einem Turm hausend langsam verrückt geworden. Das eine oder andere Zitat vermochte ich ihm zuzuschreiben, aber nur, weil es in den allgemeinen Sprachkatalog der nicht ganz Unbelesenen Einzug gefunden hatte. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ oder „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Der Lyrikkenner merkt sofort, meine Unwissenheit was den württembergischen Dichter angeht, war nahezu umfassend. Dann dräute 2020 und hie und da las man, es sei unter anderem ein Hölderlinjahr. Anfang dieses Jahres fanden sich in Literaturzeitschriften und im Feuilleton umfangreiche Artikel und Hinweise zu Veranstaltungen, Tagungen und neuen Büchern zum Thema Hölderlin. Das war dann der Punkt, an dem meine Unwissenheit mich zu stören begann. Ich wollte herausfinden, ob sich das ganze Gewese um den Dichter einfach ignorieren ließe, ohne etwas zu verpassen. Der beste Weg dahin erschien mir, ein Buch über Hölderlin zu lesen. Zwei Neuerscheinungen boten sich dafür an. Rüdiger Safranskis „Hölderlin – Komm! ins Offene, Freund!“ und „Hölderlins Geister“ von Karl-Heinz Ott (ich hätte die Auswahlliste noch um Härtlings Hölderlinroman ergänzen können, aber mir war mehr nach Sachbuch und das möglichst aktuell).
Zunächst favorisierte ich den Safranski, hatten mich doch seine Monografien über Schoppenhauer, Heidegger und Nietzsche, sowie sein Buch über die Romantik nicht nur gut informiert, sondern auch gut unterhalten. Bei seinen letzten Büchern aber war das nicht mehr der Fall. Da hatte sich eine gewisse Geschwätzigkeit eingeschlichen. Eine mit dem Dünkel des altersweisen Kenners panierte Bräsigkeit, die jegliche Frische aus dem Erzählten nahm.
Zudem war mir nicht nach dem großen Rundumschlag von Zeugung bis zur Bahre, mit dem Auftreten aller, die nur irgendetwas mit dem Dichter zu tun hatten, damit jede Nuance auch zureichend ausgeleuchtet sich fände. Ich suchte nach dem Schlaglichthaften, etwas, das ein Bild in mir erzeugt, ohne mich dabei zum Experten zu machen. Ich wollte einfach nur einen Geschmack und nicht das ganze Rezept.
Also entschied ich mit für Karl-Heinz Ott. Zum Glück! Was für ein wunderbares Buch.
Ohne es zu wissen, erstand ich ein Werk, das in seiner Machart das deutsche Pendant zu den Büchern eines meiner Lieblingsautoren, des Italieners Roberto Calasso, darstellt. Das essayistische Durchwandern einer mit der betrachteten Person verbunden Thematik, ohne Rücksicht auf Chronologie, an den Stellen kurz verweilend, die dem Autor interessant erscheinen und, durch die Art, wie er darüber nachdenkt und erzählt, die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln. In „Der Traum Baudelaires“ zeigt Calasso seine ganze Meisterschaft darin.
Genauso der aus Ehingen an der Donau stammende Karl-Heinz Ott, schon vielfach ausgezeichnet und zu Hause in den verschiedensten literarischen Gattungen. Sein Wissen um den Gegenstand seiner Betrachtung ist immens, man lernt neben dem Denken und Fühlen des Dichters viel über die politische und kulturellen Disposition der Zeit zwischen Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts kennen. Es begegnen einem eine Menge bekannte Persönlichkeiten (Goethe, Schiller, Hegel, Schelling, Schlegel etc.) Dabei geht es Ott nicht um die Anhäufung von Anekdoten, sondern darum festzuhalten, wie sich das ästhetische Programm Hölderlins positionierte und welche Auswirkungen dies auf ihn und seine Rezipienten hatte. Zweiteres ist für mich dann das, wo ich genau hinlese.
„Der bräunliche Hölderlin“, so das zweite von 5 Themengebieten, welches Ott umkreist. Da erfährt man dann, wie die hölderlinsche Emphase des Deutschen als Nachfahrin oder Erbin des antiken Griechenland in eine zunächst verklärte (George) und verkopfte (Heidegger), schließlich aber dumpfe und brutale Heimatbesessenheit sich verwandelt. Und es passte ja gut zusammen, der Gedanke Heideggers, neben den Griechen (den antiken wohlgemerkt) besäßen nur die Deutschen Tiefe (ihren Geist und ihre Kultur betreffend) und die Überzeugung, Angehöriger der Herrenrasse zu sein. Hölderlin, der einst mit dem Federkiel einen Mythos erschaffen wollte (in dem er die alten teilweise wiederzubeleben versuchte) findet seine Erfüllung im neugermanischen Führer- und Blutkult. Dafür kann der Tübinger nichts. Angesteckt aber hatte er so manchen Vordenker des Nationalismus deutscher Prägung, mit seiner Abkehr von der Moderne und der Verherrlichung und Idealisierung der alten, von den Göttern mitbewohnten Welt.
So ist Hölderlin heute, historisch betrachtet eher Warnung. Das ändert nichts daran, dass man von seiner Lyrik und seinen Ausflügen in die Dramaturgie, die Prosa und die Philosophie durchaus angetan sein kann, ohne gleich in Deutschtümelei zu verfallen. In einer Zeit allerdings, die sich wieder mehr und mehr dadurch auszeichnet, dass der Fortschritt abgelehnt wird und man sich wieder auf die Suche nach Mythen begibt, ist Hölderlin keiner, von den man sagen würde, er habe uns gerade heute noch viel zu sagen. Wenn es sich lohnt einen wieder hervorzuholen, dann ist es nicht Hölderlin, sondern Heine. Das passiert vermutlich aber erst wieder 2047, wenn sein 250. Geburtstag gefeiert wird. Hoffentlich ist es dann nicht schon zu spät.