Besiegt

Volker Ullrich, Acht Tage im Mai, C.H.Beck

Volker Ullrichs Buch über die letzten Tage des dritten Reiches ist ein gut lesbares, im Großen und Ganzen jedoch entbehrliches Buch, fügt es dem Wissen um das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa nichts Wesentliches hinzu. Ullrich macht nur ein ganzes Buch aus dem, was in anderen Abhandlungen zum Thema lediglich das letzte Kapitel bildet. Es sei denn, man betrachtet gewisse Anekdoten als Erkenntnisgewinn, zum Beispiel jene über Marlene Dietrich, deren Schwester mit ihrem Mann in der Nähe des Konzentrationslagers Bergen-Belsen ein Kino betrieb in dem die schwer arbeitenden SS-Männer und Wehrmachtsoldaten sich auf andere Gedanken bringen lassen konnten. Als Marlene davon erfuhr, traf sie sich mit ihrer Schwester und erkaufte sie sich deren Schweigen, fürchtete sie doch, ihr Ruf als engagierte Kämpferin gegen Nazi-Deutschland könnte durch das Bekanntwerden dieses belastenden Verwandtschaftsverhältnisses Schaden nehmen.

Mit den letzten Tagen des Dritten Reiches hat das natürlich nichts zu tun, aber es bedient jene Leserschaft, die mit dem Namen Marlene Dietrich mehr anfangen kann, als mit Keitel, Jodl oder Dönitz.

Zu einem aber taugt Ullrichs Buch, und zwar um mit dem Unsinn aufzuräumen, den Weizäcker mit seiner Bundestagsrede am 8. Mai 1985 in die Welt gesetzt hatte, als er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnete. Befreit wurden damals nur diejenigen in den Lagern, die Versteckten wie ein Hans Rosenthal oder solche, die nur durch die bedingungslose Loyalität ihrer Partner vor der Deportation bewahrt wurden, wie zum Beispiel Viktor Klemperer. Der Rest der Deutschen wurde nicht befreit, sondern besiegt.

Die von Hitler als seine Nachfolge eingesetzte Regierung um Dönitz sah zwar ihre militärische Niederlage ein, wollte aber nur allzu gerne den Nationalsozialismus weiterführen. Die Alliierten natürlich machten ihnen einen Strich durch diese selbstherrliche Rechnung und verhafteten die ganze braune Bande nur wenige Tage nach dem die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet war. Dies geschah sogar zwei Mal, zunächst in Reims und dann auf Drängen der Russen nochmals in Berlin. Auf dem Weg dorthin kommentierte Keitel mitleidig die umfassende Zerstörung der deutschen Städte, durch die sie fuhren, worauf sein russischer Begleiter nur bemerkte, dass dessen Soldaten dies in weit größerem Maße in seiner Heimat verursacht hatten. Und genau darin lag das Problem, nicht nur bei der Führung der Wehrmacht und dem schmalen Kontingent an Obernazis, denen es noch nicht gelungen war, sich umzubringen, sondern der Bevölkerung des ganzen Landes: Der völlige Mangel an Schuldbewusstsein. In seiner Abschiedsrede beschwor Dönitz den heldenhaften Kampf der Deutschen, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen und jede Kugel, die aus einem deutschen Gewehrlauf abgefeuerte wurde, tat dies nur im Dienste reiner Selbstverteidigung. Von den Konzentrationslagern hatte natürlich niemand gewusst. Überhaupt war nach dem 8. Mai 45 niemand, der noch am Leben war, jemals Nazi gewesen, sondern hatte sich in die innere Emigration begeben, still hoffend und betend, dass der nationale Taumel bald vorüber sei.

Wenn Deutschland befreit wurde, dann am 30. April 1945, dem Tag, als Hitler seinem unsäglichen Leben ein Ende setzte. Es wurde befreit von dem Dämon, der es geschafft hatte die dunkelste Seite in den germanischen Seelen freizusetzten und diese erbarmungslos und inbrünstig auszuleben. Nur machte sie dies nicht zu seinen Opfern. Sie taten es aus freien Stücken, weil sie teilhaben wollten an den von ihrem Führer herausgebrüllten Allmachtsfantasien.

Als der Spuk dann vorbei war und sie nicht mehr hatten als das nackte Leben, bestand die einzige Möglichkeit der Konfrontation mit ihrem bösen und dunklen Selbst zu entgehen darin, sich als Opfer zu stilisieren und fleißig am Wiederaufbau mitzuwirken. Aber hier sind wir schon viel weiter, als Ullrichs Buch gehen möchte. Es macht da halt, wo es anfängt spannend zu werden. Was nicht schlimm ist, denn es gibt genügend kluge Menschen, die weit tiefer in den Stoff eingedrungen sind als er.

Natürlich ist Acht Tage im Mai mehr als Guido Knopp, zielt es doch nicht nur auf wohliges Gruseln, sondern möchte in bester Absicht Fakten vermitteln. Man kann es jedem empfehlen, der vom Ende der Nazi-Regierung nicht mehr weiß als das, was in dem Film Der Untergang gezeigt wurde. Letztendlich aber reiht es sich ein in die Vielzahl von Betrachtungen, die zwar in aller Aufrichtigkeit verfasst wurden, dem Leser, vor allem dem deutschen, aber dennoch das Gefühl vermitteln, mit all dem nichts mehr zu tun zu haben, auch wenn Ullrich im letzten Satz des Buches dazu auffordert, sich des großen Glücks in einer freiheitlichen Demokratie zu leben bewusst zu werden. Aber es geht hier halt nicht um die Schlacht im Teutoburger Wald, sondern um die sagenhafte Implosion eines ganzen Landes mitsamt seines narzistischen Selbstbildes, auf die der Aufbau jener Gesellschaft folgte, in der wir heute leben und deren Grundlagen wieder von vielen Seiten angegriffen werden. Da hätte ich mir schon etwas mehr Gegenwartsbezug gewünscht. Aber das lag wohl nicht im Sinne des Verfassers. Verkaufen lässt sich das Buch, so wie es ist, natürlich wesentlich besser.