Die Hölle bei Dante, James Joyce und Thomas Mann
Dantes Hölle ist eine pittoreske Grausamkeit, die heutzutage zwar noch ästhetisches Entzücken, keinesfalls aber metaphysische Erschütterung hervorzurufen imstande ist. Bei Joyce wird sie durch die sadomasochistische Eloquenz eines Predigers zur Drohung und Erpressung, die im fundamentalistischen Umfeld noch immer wirkt. Thomas Mann dagegen schweigt sich derart über sie aus, dass es einem durch Mark und Bein fährt, weil man erkennt: Es gibt sie wirklich.
Die Kulisse
Dantes Inferno ist die berühmteste Folterkammer der Literaturgeschichte. Das verdankt sich der sprachlichen Qualität des Werkes und dem zeitlichen Kontext seiner Entstehung Anfang des 14. Jahrhunderts mehr als seiner Explizität in der Beschreibung verschiedenster Strafen und Zuständen der Agonie. Der Text ist angefüllt mit Bezugnahmen politischer, kultureller und auch persönlicher Natur. Er wird heute verstanden als reich bebilderte und episch/poetisch konzipierte Warnung, das Menschliche nicht aufzugeben angesichts dessen, was dem Sünder droht, sollte er die Gnade des allgütigen Herrgottes geringschätzen und dessen Heilsplan zuwider handeln.
Was genau nun die Hauptmotivation des Italieners auch war, er meinte es ernst mit seiner Hölle. Er glaubte daran und konnte sich deswegen in ihr so frei und ungehindert bewegen. Er konnte sie mit allen ihm zu Verfügung stehenden Farben ausmalen und sie bevölkern mit wirklichen Menschen und Mythengestalten, konnte Verdammung, Gnade und Erhöhung zuschreiben, Dämonenrotten brüllen und Engelschöre singen lassen. Trotz aller mehr oder weniger offensichtlichen Maskierung damals lebender Menschen, die Hölle als Ort der verdienten Strafe und ewigen Qual ist bei Dante frei von jedweder ironischen Schattierung.
Aus diesem Grund ist Dantes „Göttliche Komödie“ heute in metaphysischer Hinsicht belanglos und steht für den Leser völlig aus der Zeit. Man kann ihr begegnen wie einem Fantasy-Roman, ohne ihr, bezieht man es rein auf seine bildliche Ausgestaltung und sein überirdisches Personal, Unrecht zu tun. Schält man alles heraus, was zur Zeit der Niederschrift aktuell und für den Verfasser in irgendeiner Weise problematisch war, so bleibt eine Kulisse, in der auch Harry Potter neben Gandalf durch die Höllenkreise laufen könnte oder mit Galadriel durch die Himmelsspähren.
Bestand hat die Wirkung, die Dantes Höllen- und Himmelsreise im Laufe der Jahrhunderte entfaltet hat. Sie hat die Sprache eines ganzen Volkes begründet und beeinflusste Literatur und Kunst maßgeblich. Ihr Stellenwert diesbezüglich ist noch immer unbestritten. Als poetische Karnation eines repräsentativen Weltbildes taugt sie aber schon lange nicht mehr. Himmel und Hölle, das sind bei Dante nur Kulissen, die vom Autor als gegeben hingenommen und an keiner Stelle seines epochalen Werkes hinterfragt werden.
Die Prügel
Wenn James Joyce den Katholizismus für schwarze Magie hielt, dann nicht, weil er an Zauberei glaubte, sondern weil er von Kindheit an erfahren hatte, welchen Schrecken diese Religion zu verbreiten wusste. Aus Anfangs stabilen finanziellen Verhältnissen immer mehr in eine prekäre Lage geratend, blieb dem jungen Iren keine andere Wahl, als katholische Schulen und Colleges zu besuchen. Der Preis, den er dafür bezahlte: Angst und Gewissenstumulte.
All dies lässt sich gut erlesen aus Joyce Erstlingswerk „Das Portrait des Künstlers als junger Mann“, in dem der Schriftsteller sein Heranwachsen im katholischen Irland Ende des 18. Jahrhunderts thematisiert. Er lässt sein Alter Ego Stephen das Belvedere College in Dublin besuchen, die gleiche Schule, an der Joyce selber war.
Im dritten Kapitel des Romans erzählt Joyce von den Vorbereitungen, die die Schüler für ein dreitägiges Exerzitium zu Ehren des heiligen Franz Xaver treffen sollen. Dazu gehört eine einpeitschende Rede des Rektors, vor allem aber die Predigten von Pater Anselm. Dieser rezitiert die Eden-Geschichte und den Opfergang Christi, um die Abtrünnigkeit des Menschen und die Möglichkeit der Versöhnung mit Gott durch Jesu Martyrium auf dem Kalvarienberg seinen Schülern vor Augen zu stellen. Wobei jene Befreiung nur den Gehorsamen und Reuevollen in Aussicht stünde. Die Sünder dagegen erwarte die Hölle.
Damit seine Eleven auch wirklich verstehen, was es mit der ewigen Verdammnis auf sich hat, setzt der Pater zu einer in grellen Farben gemalten Bebilderung dessen an, was den Höllenfahrer erwartet. Mit sadistischer Detailverliebtheit beschreibt er das Ausmaß der göttlichen Bestrafungsorgien, wobei es ihm immer wieder darum geht herauszustellen, dass es unter keinen Umständen ein Entkommen gibt. Weder ein Nachlassen der Schmerzen, noch ein gnädiger Tod, weder erleichterndes Verrücktwerden oder gar eine Begnadigung seitens des Allerhöchsten seien zu erwarten. Nicht nach tausend oder zehntausend – ja nicht einmal nach einer Millionen Jahren der ununterbrochenen Folterung. Nur Gestank, Feuer, Dunkelheit, Einsamkeit, Beschimpfung, Schmerz, Verzweiflung, Wut und unbeschreibliche Agonie. Für immer. Für immer, immer, immer. Und man solle bloß nicht denken, das Fleisch würde sich durch das unaufhörliche Schmoren im Höllenfeuer verzehren. Nein, Tag um Tag erneuere es sich, damit es mit jugendlicher Sensibilität den Biss der Flammen aufs entsetzlichste zu spüren bekäme.
Nach den Predigten des Pastors ist Stephen aufs tiefste erschüttert. Er beichtet und bittet Gott verzweifelt um Vergebung. Sein Blick auf die Realität ist verzerrt und überall sieht er Teufel und dämonische Kreaturen. Nur langsam kann er sich erholen und seine Liebe zur Kunst, zu den Frauen, zum prallen Leben überwindet die eingepflanzte Angst. Am Ende verlässt er Irland, weil er in der muffigen katholischen Luft keinen Platz zum Atmen mehr findet, und ein Dasein, wie er es sich wünscht, nur außerhalb dieser unterdrückenden Atmosphäre gelebt werden kann. Ordentlich war er verprügelt worden, nicht nur von seinem Vater, sondern vor allem von einer Religion, die einer jungen Generation nach der anderen das Fürchten lehrte. Aber er hatte es überlebt. Er hatte seine Wunden geleckt und würde fortan nicht mehr zulassen, dass man sein Gewissen durch Drohungen in Aufruhr brächte.
Die Hölle
Im amerikanischen Exil wurde Thomas Mann aktives Mitglied der unitarischen Kirche. Deren Ablehnung dogmatischer Bibelauslegung und dem Bestehen auf humanistischen Prinzipien waren ihm zutiefst sympathisch. Mann entstammte einem lutherischen Elternhaus, sah sich selbst aber immer als Anhänger einer Zivilreligion, die den Menschen in den Vordergrund stellte und einer auf Rationalismus beruhenden Diesseitigkeit den Vorzug gab gegenüber einem Denken, das sich an jenseitigen Belohnungs- und Straffantasien orientierte. Goethe, Schopenhauer und Nietzsche, mit einer guten Prise Luther, anstatt Paulus und Augustinus. Religion, so Manns Überzeugung, sollte helfen, im Hier und Jetzt wahrhaft Mensch zu sein. Die katholische Tendenz des Nationalsozialismus wird ihn im seinem Denken bestätigt haben. Eine weitere Erfahrung aus diesen Schreckensjahren: Zu fürchten hat man mehr den Menschen in seiner ideologischen Verblendung und seinem rassischen Überlegenheitswahn als eine Horde Teufel an einem mystischen Ort, den aufzusuchen nur den Toten vorbehalten ist. Wer wusste schon, was wirklich kam nach dem Tod. Warum sich darüber Gedanken machen? Was man zu Lebzeiten an Übeln erfahren konnte, war hinreichend genug. Darauf galt es sein Augenmerk zu lenken, darin seine Worte zu investieren.
Als Thomas Mann in seinem Roman „Doktor Faustus“ den genialen Tonsetzer Adrian Leverkühn seine Seele verkaufen ließ, da wusste er, er konnte den Preis, den der Komponist für seinen Pakt mit dem Teufel zu bezahlen hatte, nicht in dantesken Üppigkeiten oder in der postkatholischen Radikalität eines Joyce darstellen. Es galt, dem Zynismus einer kalten Seele, die als Metapher für Nazideutschland herhalten sollte, eine ebenso kalte Strafe in Aussicht zu stellen. Kalt, im Sinne von unsagbar. So weigert sich Mephistopheles auch, Adrian nähere Auskunft über den Verdammungsort zu geben. Er beschränkt sich auf die Betonung der Unaussprechlichkeit der Qual, die ihn erwarten würde. Mehr noch, er verhöhnt den Wunsch des Künstlers Einzelheiten zu erfahren. Es sei, so der Gottseibeiuns, zum Kreideweißwerden, da man schon beim Eintritt erfährt, dass nun alles aufhört, jedes Erbarmen, jede Gnade, jede Schonung und jede Rücksicht auf den Einwand: „Das könnt ihr mir doch nicht antun!“
Der Teufel verwendet einige Superlative, aber durch die altertümliche Sprache, die der Autor ihm in den Mund legt, wird daraus eine Art Spiel, das immer wieder suggeriert, im Jenseits ginge es, auch wenn man in der Hölle ist, weit weniger ernsthaft zu als im Hier und Heute, wo Adrian mithilfe des Leibhaftigen seine Kunst zu nie gekannten Höhen treiben kann.
Dass für Thomas Mann die Hölle nur eine Metapher für einen Zustand war, sei es der eines einzelnen Menschen oder einer ganzen Nation, kann man auch daran erkennen, dass er seinen Protagonisten schon zu Lebzeiten einen Preis an den Teufel zahlen lässt. Es wird ihm nicht gestattet zu lieben. Als gegen Ende des Buches Leverkühn tatsächlich beginnt für einen Menschen etwas zu empfinden, wird ihm dieser durch eine schwere und schmerzvolle Krankheit genommen. Hierbei handelt es sich um ein Kind, was das Bild einer diesseitigen Qual verstärkt, der gegenüber jede Vorstellung einer Bestrafung nach dem Tod verblasst.
Während bei Satre die Hölle die Abwesenheit von Vernunft ist, ist sie bei Thomas Mann die Wohnstatt eines kalten Intellekts. Und sie ist – diese ernüchternde Tatsache hat uns die Aufklärung anschaulich gezeigt – ein realer Ort, ein Wesens- und Gemütszustand, ein Gedanke, das Auftreten des Menschen gegenüber seinesgleichen.
Es ist diese Hölle auf Erden, die uns vor Dantes Inferno-Gemälde nicht mehr erschauern lässt, uns die brandstiftende Perversität christlicher (und auch islamischer) Drohungspädagogik erkennen hilft, und uns bewusst macht, dass wir nur vor einer Sache Angst haben müssen: Vor uns selbst.