Die schwache Hoffnung

Jean Amérys beeindruckender Essay An den Grenzen des Geistes schildert die Konfrontation eines humanistischen Intellektuellen mit dem Grauen der NS-Vernichtungslager. Anschaulich beschreibt der Auschwitz-Überlebende die Hilflosigkeit, mit der er als „Geistesmensch“ der absoluten Entmenschlichung gegenüberstand. Er stellt sich und seinesgleichen den Berufsverbrechern und einfachen Arbeitern gegenüber, deren lebenslanges Training in Überlebenstechniken und mit der Muttermilch aufgesaugtes Akzeptieren des Rechts des Stärkeren, ihnen einen Vorteil verschafft hatte vor denjenigen, die sich in abstrakten Denkgebilden und einem künstlerisch-literarischen Assoziationsraum bewegten. Dieser konnte, angesichts einer durch und durch unlogischen und unvernünftigen Situation, keinerlei Halt mehr vermitteln. Und in der kalten Kosten/Nutzen-Rechnung der Lagerbetreiber galten diese Kopfmenschen als Minusgeschäft, denn sie waren in der Regel zur praktischen Arbeit nicht im Stande.

Améry zieht aber noch einen anderen Vergleich. Er beschreibt die Gruppe der Idealisten – entweder tiefgläubige Menschen oder Kommunisten – und stellt fest, dass diese sich wesentlich leichter mit ihrem Schicksal abfinden konnten als die ungläubigen Intellektuellen. Bei den Gläubigen lag das auf der Hand, da sie ihre Existenz nicht auf das irdische Dasein beschränkt wussten. Sie konnten über die momentane Qual hinausdenken und sich eine Zukunft jenseits ihrer irdischen Erbärmlichkeit vorstellen. Und auch der Kommunist, so Améry, hat eine konkrete Vision. Zwar keine individuelle wie der Gläubige, aber die einer Gesellschaft, die alle Ungleichheit überwinden würde und in der das Barbarische, das man im Moment erlebte, ein für alle Mal der Vergangenheit angehörte.

Ein solcher Zufluchtsort stand dem säkularen und ideologiefreien Intellektuellen nicht zur Verfügung. Er musste hilflos mit ansehen, wie seine Wertvorstellungen und sein Inbegriff des Menschseins zertreten und zerstört wurden. Was war Beethoven oder Mozart, was war Goethe, Klopstock und Shakespeare, wenn man beobachtete, wie ohne ersichtlichem Grund einem Gefangen der Bauch aufgeschlitzt und mit Sand angefüllt wurde? Wenn man jeden Tag Zeuge wurde, wie Tausende ins Gas gingen oder an den Folgen von Misshandlungen, Fronarbeit und Erschöpfung starben?

Der Autor erwähnt aber noch eine andere Sache, die einen ganz besonderen Wesenszug von Ideologien zum Vorschein bringt. Er schreibt:

Die religiös oder politisch gebundenen Kameraden waren nicht oder nur wenig erstaunt, dass im Lager das Unvorstellbare Ereignis wurde. Der Mensch, der sich von Gott abgewendet hatte, musste dahin kommen, dass er die Auschwitz-Gräuel verübte und erlitt, sagten die frommen Christen und Juden. Notwendig muss der in sein letztes, das faschistische Stadium eingetretene Kapitalismus zum Menschenschlächter werden, sagten die Marxisten. Hier geschah nur das, was die ideologisch geschulten oder gottgläubigen Männer immer schon erwartet hatten.

Wir Nachgeborenen haben es leicht, den Irrtum dieser Denkweise zu erkennen. Aber deswegen ist diese Art das Übel in der Welt einzuordnen nicht ebenso Vergangenheit. Sie besteht in jeder Ideologie, die heute das Denken und Handeln von Menschen antreibt, fort. Sie ist ein teleologischer Fatalismus, der in seinem inhumanen Charakter menschliches Leid einem höheren Zweck unterordnet, eine der individuellen Freiheit und dem Lebenswillen des Menschen entgegengesetzte Todesakzeptanz, der Glaube an die eine große Sache, die jedes Opfer rechtfertigt.

Die Schlussfolgerung daraus ist befremdlich, aber nicht von der Hand zu weisen: Die gleiche ideologische Kraft, die Menschen dazu brachte, Vernichtungslager zu erbauen, half anderen wiederum, höchstens körperlich Opfer dieser Todesmaschinerie zu werden. Denn auch den Nazis erschienen ihre Verbrechen als eine Notwendigkeit, als etwas, das geschehen musste, damit sich danach das mit ihrer Ideologie verknüpfte Heilsversprechen erfüllte.

Amérys Aufzeichnungen zeigen deutlich: Der säkulare, ungläubige und keinerlei Ideologie verbundene Mensch ist das zwar schwächste Glied innerhalb einer Gesellschaft, die immer wieder zu repressiven Handlungen tendiert, am Ende aber doch ihre einzige Hoffnung.

 

Jean Améry, An den Grenzen des Geistes.

Zu finden in:

Jean Améry, Werke, Band II, Jenseits von Schuld und Sühne, Klett-Cotta, ISBN 3-608-93562-2

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