Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel beschäftigt sich mit so spannenden Themen wie dem praktischen Rationalismus und dem Spannungsverhältnis zwischen subjektiven und objektiven Standpunkten im Hinblick auf Ethik, Moral und Politik. Dem Diskurs mit der Welt, den wir mit Hilfe des Verstandes führen, geht ein innerer Diskurs mit uns selbst voraus, der mit Begriffen wie Klugheit oder Moralität noch nichts anzufangen weiß und somit als subjektivitätsmetaphysisch bezeichnet werden kann. Aus der Auseinandersetzung dieser beiden Wahrnehmungsebenen, die ständig versuchen einander zu verdrängen, entstehen die Prinzipien des Handelns.
1979 erschien Nagels Buch „Letzte Fragen“ (Originaltitel: Mortal Questions), mit Essays über verschiedene Themen, wie das Absurde, Krieg und Massenmord, Gleichheit und sexuelle Perversion. Ebenfalls darin enthalten ist sein berühmter Aufsatz: „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“
Der für mich interessanteste Essay ist gleich der erste im Buch, betitelt: Der Tod. Er beginnt mit der Frage:
„Warum eigentlich ist es schlimm zu sterben, wenn doch der Tod das Ende unserer Existenz ist, unwiderruflich und bis in alle Ewigkeit?“
Das Übel des Todes, so stellt er fest, liegt nicht im Zustand der Nichtexistenz, sondern in dem Herausnehmen aus der Zeit, dem Abschneiden der Zukunft. Um das zu verdeutlichen, führt er einen Gedanken von Lukrez an. Dieser meinte, niemand mache sich Gedanken über seine Nichtexistenz vor der Geburt, also gäbe es auch keinen Grund, über die Nichtexistenz nach dem Tod zu grübeln, da diese nur ein Spiegelbild des Vorherigen sei. Aber, so Nagel, die Zeit nach unserem Tod ist Zeit, die uns geraubt wird. Wären wir nicht gestorben, könnten wir noch leben – der Tod also bedeutet auf alle Fälle einen Verlust, und zwar den an Zeit und Möglichkeiten. Die Spanne vor der Geburt wird nicht als Verlust betrachtet, weil jeder Mensch nun mal nur in dem Moment geboren (besser gesagt gezeugt) werden kann, an dem es passierte. Andernfalls wäre er eben nicht dieser Mensch, sondern einfach ein anderer. So sind die biologischen Gegebenheiten. Es gibt also keine Möglichkeiten für das Individuum vor seiner Geburt. Danach aber gibt es davon unzählige, die der Tod zu irgendeinem Zeitpunkt zunichte macht.
Soweit Nagel. Ich möchte nun dieses Gedankenspiel über die vorgeburtliche Nichtexistenz im Vergleich mit der postmortalen noch ein wenig fortsetzen. Dass das Nichtsein vor unserer Geburt von uns nicht als Verlust betrachtet wird, liegt ja nicht nur daran, dass es einfach eine biologische Unmöglichkeit ist, als der gleiche Mensch früher geboren worden zu sein. Es liegt meines Erachtens vor allem an unserer intellektuellen Fähigkeit, die Vergangenheit als einen Teil unseres eigenen Seins zu betrachten. Das betrifft nicht nur Naheliegendes, wie die eigenen Vorfahren, sondern auch die Geschichte des Landes, in dem man lebt, nicht zuletzt die Geschichte der Menschheit selbst. Die Vergangenheit ist, auch wenn wir sie nicht erlebt haben, dennoch Teil unserer Erfahrung (natürlich beschäftigen sich die Menschen sehr unterschiedlich mit der Vergangenheit, die einen mehr, die anderen weniger, manche vielleicht überhaupt nicht. Aber zumindest in unserer Informationsgesellschaft ist es nahezu unmöglich, ohne jegliche Vergangenheitserfahrung groß zu werden oder zu leben). Die Zeit vor unserer Geburt ist deswegen kein Verlust, weil wir sie aufgrund der Beschaffenheit unseres Geistes nacherleben können.
Mit der Zeit nach unserem Tod verhält es sich naturgemäß völlig anders. Sie ist uns nicht zugänglich. Zwar ist es für viele interessant und anregend sich Zukunftsvisionen auszumalen, Science Fiction Geschichten zu lesen oder als Film anzuschauen. Aber daraus entsteht nie das Gefühl einer Erfahrung oder des wenigstens indirekt beteiligt seins, wie beim Betrachten der Vergangenheit. Um Zukunft als Erfahrung zu haben, muss man sie erleben. Die Nichtexistenz nach dem Tod ist also ein Erlebnisverlust.
Noch etwas kam mir bei der Gegenüberstellung von den beiden Formen der Nichtexistenz in den Sinn: das Problem den Begriff Ewigkeit gedanklich zu erfassen.
Mir wurde als Kind beigebracht, Gott habe schon immer existiert. Unzählige Male habe ich versucht, diese Tatsache zu denken, aber es war nicht möglich. Innerhalb weniger Momente kamen ganz banale Fragen auf wie: Was hat er denn die ganze Zeit gemacht? Und davor? Und vor dem Davor?
Es geht einfach nicht, wir sind in unserem Denken sosehr in der Zeit verhaftet, dass wir allem einen Anfang geben müssen. Es ist ein intellektuelles Verlangen, alle Dinge bis zu ihrem Ursprung, ihrem Beginn zurückzuverfolgen. Daher ist die Existenz eines allmächtigen seit Ewigkeiten existierenden Gottes für viele nicht akzeptabel.
Dagegen macht uns unsere genauso ewige Nichtexistenz vor der Geburt keine gedanklichen Probleme. Auch die Vorstellung, vor dem Urknall gab es keinen Raum und keine Zeit, also irgendwie Nichts, ist leichter zu erfassen, als ein schon immerwährendes Etwas. Nichtexistenz ist in der Zeit vor unserer Geburt für uns also gedanklich zu erschließen.
Durch die Tatsache unserer Existenz, drehen die Dinge sich um. Nun ist die Vorstellung des zukünftig ewigen Nichtexistierens nicht mehr wirklich zu denken. Der Tod nimmt uns aus der Zeit und wir haben für diesen Zustand keine Begriffe mehr. Auch wenn unsere Nichtexistenz vor dem Tod theoretisch ebenso ewig war, ist sie es in unserem Denken nicht, denn sie hatte mit unserer Geburt ein Ende. Dem wird aber, unter Ausklammerung jedweden religiösen Hoffnungen, im Falle der Nichtexistenz nach dem Tod nicht so sein.