Der schweigende Stein

Die letzte Beisetzung auf dem Alten Schwabinger Nordfriedhof fand 1939 statt, obwohl es die Jahre danach noch reichlich zu beerdigen gab.

Sieben Jahrzehnte sind aber lange genug, um diesem Ort heute jedwede Andächtigkeit abzusprechen und Pietätlosigkeiten wie Joggen und halbnackt auf der Wiese Herumlungern zu tolerieren. So richtig tot ist man selbst auf einem Friedhof erst, wenn kein Nachschub mehr kommt und keine Hinterbliebenen die Gräber mit ihren Trauermienen umstellen. Dann kann aus einem Friedhof ein Freizeitpark werden. Zumal viele der Grabsteine kaum mehr zu entziffern sind und selbst die Enkelgeneration der hiesigen Belegschaft allenfalls noch in dem vom Zivi geschobenen Rollstuhl ihren Vorgeborenen einen Besuch abstatten könnte. Also spricht nichts dagegen, seinen knackigen Studentenarsch in der Münchner Sonne da bräunen zu lassen, wo ein dreiviertel Jahrhundert zuvor noch ehrliche und unehrliche Tränen vergossen wurden.

 

Dennoch wurde der Friedhof im Jahr 2006 für einige Tage gesperrt. Wegen der etwas makaber klingenden Tatsache, dass dort am Morgen des 24. Dezember eine Leiche gefunden wurde. Oberhalb der Grasnarben ist das selbst auf Münchner Friedhöfen etwas Außergewöhnliches. Man identifizierte den Toten sehr schnell als jene Person, die sich schon seit mehreren Wochen täglich auf dem Friedhof aufgehalten hatte, oftmals stundenlang vor einem der Grabsteine kniend. Die befragten Anwohner und Passanten äußerten die Vermutung, der Mann habe versucht die Inschriften auf den Steinen zu entziffern. Damit hatten sie nicht unrecht, auch wenn die Geschichte dahinter weit weniger banal ist und dem Friedhof für einige Tage wieder zu dem werden ließ, was er früher war: ein Ort, angesiedelt zwischen Tod und Leben, zwischen Realität und Traum, Wissen und Hoffen, Liebe und Wahnsinn.

 

F. hatte den Friedhof vier Wochen vor seinem Tod das erste Mal besucht und sogleich fiel sein Blick auf einen Grabstein, der den Namen seiner jüngsten Tochter trug. Die Übereinstimmung betraf zwar nur den Vornamen, aber so von der Vielfalt vergangenen und vergessenen Lebens beeindruckt, sah F. darin ein Zeichen. War seine Tochter doch erst vor kurzem verstorben und zwar am selben Tag und demselben Monat wie ihre Namensbase, nur exakt einhundert Jahre später. Und sogleich ergriff die Idee von ihm Besitz, auf einem der Grabsteine auch seinen Namen zu finden und damit verbunden, den Hinweis auf das Datum seines Ablebens.

 

Zunächst besah sich F. alle Grabsteine, deren Inschriften noch gut lesbar waren. Danach wandte er sich denjenigen zu, die sich nur mit der Hilfe von Pauspapier, Lupe und den städtischen Personenregistern auskünftig machen ließen. Am Ende kannte er jedes Grab ganz genau und wusste, wer wann wo beerdigt worden war; nicht selten auch, aus welchem Grund. Nur eines der Gräber entzog sich ihm, behielt sein verwittertes Geheimnis für sich, schien gar nicht zu existieren, außer in Form eines nahezu glatten Steines. Dieser musste es sein, dessen war sich F. sicher. Also setzte er sich davor und wartete darauf, dass der Stein zu ihm sprach oder ihm auf irgendeine andere, wundersame Weise mitgeteilt würde, welche Namen und Daten er einst getragen hatte. Darüber vergaß er in besagter Nacht die Zeit, nahm weder Dunkelheit noch Kälte war und fiel kurz vor Mitternacht in einen tiefen Schlaf, aus dem er aufgrund der starken Unterkühlung seines Körpers nicht mehr erwachte.

 

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