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Was kümmern den Abend die Versprechen von Sonnenaufgängen
Der kleine Evangelist
Schauen sie sich diesen Jungen an. Ist er nicht süß? Das dichte Haar brav auf der linken Seite gescheitelt. Und diese Grübchen wenn er lächelt. Nicht nur zwei, sondern vier sind es. Das sieht man selten. Ich weiß nicht, ob das was bedeutet, aber ich könnte mir vorstellen, dass ein besonders fröhlicher Geist in diesem kleinen Kopf steckt. Vier Grübchen! Wie adrett er angezogen ist. Hose mit Bügelfalten, frisches Hemd und sogar Krawatte. Ob er sie schon selbst binden kann? Einen dunkelblaues Sakko, wo doch alle in seinem Alter schon diese fürchterlichen Parka tragen. Gut, die kleine Aktentasche wirkt etwas aufgesetzt, aber irgendwo muss er ja seine Heftchen und Faltblätter hineintun. Alles in allem ein kleiner Erwachsener, ein Kind, das anscheinend schon in diesem zarten Alter weiß, wo es hin will. Respekt! Höflich ist er. Grüßt anständig und schaut einem direkt in die Augen. Saubere Aussprache. Der passt im Deutschunterricht bestimmt gut auf, meldet sich, wenn es darum geht etwas vorzulesen und hat keine Angst davor, an die Tafel zu gehen. Seine Lehrer werden ihn lieben. Ich höre ihm gerne zu und beantworte bereitwillig seine Fragen, auch wenn es befremdlich ist, von einem Kind auf seine Zukunftserwartungen angesprochen zu werden. Um den Jungen nicht zu verwirren sage ich etwas Unverbindliches. Frieden hätte ich gerne und dass alle Menschen glücklich sind. Das Kleine strahlt, als hätte ich ihm ein Geschenk gemacht. Er hält ein Buch in der Hand, in dem er flink anfängt zu blättern und dann liest er. Keine moderne Sprache, aber er meistert sie spielend, ohne dass es auswendig gelernt klingt. Schöne Sachen liest er mir vor. Gott wird jede Träne von meinen Augen wischen, noch wird Trauer, Geschrei und Schmerz mehr sein. Selbst der Tod ist vergangen. Große Worte für einen so kleinen Menschen. Der Mann neben ihm ist bestimmt sein Vater. Stattlicher Kerl, in einer etwas biederen Kombination zwar, aber saubere Schuhe und saubere Hände. Zweifellos ist er stolz auf seinen Sohn. Der macht das aber auch wirklich gut. Ob mir das gefallen würde, fragt der kleine Mann. Ja, sage ich, was soll ich sonst sagen. Hört sich ja gut an. Zumal aus so einem kleinen, sauberen Mund. Aber dann ergreift der Vater das Wort und der Zauber ist vorbei. Armes Kerlchen, hat seinen Dienst getan und muss nun dem Erwachsenen Platz machen. Wie werde ich die jetzt wieder los? Stimmt, ich habe ja noch Kartoffeln auf dem Herd, zwar noch nicht angeschaltet, aber auch keine Lüge, wenn ich sage, ich müsse mich nun darum kümmern. Tschüss mein Kleiner. Ach wären meine Enkel nur so brav…
Das letzte Gebet
Als irgend so ein Südseekönig mal nach Europa kam, wunderte er sich über die Klingelknöpfe an manchen Häusern. Sie sähen aus wie Brustwarzen, bemerkte er. Diese Assoziation kam mir nie, obwohl ich hunderte, womöglich sogar tausende von ihnen gedrückt habe. Der Erotik des Türenklingelns bin ich nie teilhaftig geworden. Eher der Übelkeit des Unvorhersehbaren, dem Magenkrampf des sich Aufdrängens, dem bösen Schwindel ideologischen Offensivverhaltens. Vermutlich gehört es zu einer meiner größten Lebensleistungen, es in Gottes Drückerkolonne zu einigem Ansehen gebracht zu haben, ohne in dem eigentlichen Kerngeschäft jemals erfolgreich gewesen zu sein. Keine einzige Seele habe ich gefangen. Eine Tatsache, die mir damals ständig das Gewissen umgrub. Selbst als ich schon am Rand stand, kurz vor dem Absprung, dachte ich, das muss es sein, du musst den Missionar in dir herauskitzeln, dann wird alles gut. Also nochmal hinaus, nochmal Aug in Aug mit der Türklingel und zeigen, dass du ein wahrer Jünger bist. Auf dem Weg dahin ein inbrünstiges Gebet: Wenn du, Gott, mich wirklich willst, dann mach, dass ich das kann. Dass ich das gerne tue. Dass ich Erfolg habe.
Gott kündigt seinen Mitarbeitern, indem er schweigt, sie dieses Schweigen bis ins Mark spüren lässt und sie sich fühlen wie ein verächtlich an den Straßenrand hingerotzter Eiweißbatzen. Um die Unverdaulichkeit der Erfahrung noch zu erhöhen, schickt er Freunde und Verwandte, die dich bedauern wie einen Krebskranken, dem man keine Aussicht auf Heilung gönnt. Aus lauter Verzweiflung machst du dich klein, kämmst dir einen Seitenscheitel und ritzt dir mit einer Rasierklinge vier Grübchen in die Wangen. Aber Gott stellt dich nicht wieder ein, genauso wie deine Freunde dich nicht wieder als Freund und deine Verwandtschaft dich nicht wieder als Verwandten einstellen. Auch gibt es keine alten Damen mehr, die dich niedlich finden. Überhaupt findet dich niemand mehr und du verbringst deine Zeit fortan mit suchen.
Und in deinem letzten Gebet sagst du nicht (wie du heute wünschst es damals gesagt zu haben): Leck mich am Arsch, sondern einfach nur: Es tut mir leid.
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