18/X/16

Ich mochte Gute-Nacht-Küsse nie. Sie waren feuchte Bahrenträger, die einen in die Dunkelheit entsandten, mich allein ließen mit dem Gemurmel erloschenen Lichts. Hätte man mir mehr von Tagesanbrüchen erzählt, mehr von aufgehenden Sonnen und sich schnell verflüchtigenden Morgennebeln – die Gute-Nacht-Küsse wären ein Versprechen gewesen. Aber sie hatten immer diese schmatzende Endlichkeit, als wollten sie mir das bisschen Leben von der Haut lecken, das mir in den wenigen Jahren seit meiner Geburt als süßer Flaum auf dem Körper gewachsen war.

Wie konnte man, dachte ich mir, die Nacht gut wünschen, wenn doch jeder wusste, dass von ihr nichts Gutes zu erwarten war. Man hatte ja kaum die Augen geschlossen, da zündeten alle Ängste, die jemals in einen hineingestopft worden waren, ihr grelles Feuerwerk unter dem man sich nach einem Dunkel sehnte, das einer weichen Decke glich. Und jeden Abend wünschte man sich, es möge anders ein. Doch jeden Abend spreizte sich das väterliche Gebein zum Gebet und man selbst glitt hinein in diese Haltung, in dieses Ducken, das die Angst vor der Nacht noch verstärkte, denn wenn du vor der Nacht beten musst, dann muss die Nacht etwas besonders schlimmes und gefährliches sein; du betest ja nicht, bevor du dir die Zähne putzt oder bevor du zur Schule gehst, auch nicht wenn du am Samstagnachmittag die Sportschau guckst, du betest vor dem Schlafen, als seiest du gerade da besonders verletzlich, als könnte man dich ausgerechnet in diesem warmen und kuscheligen Moment von Gott und Familie wegreißen.

Nach der Anrufung um Schutz bekommst du einen Kuss und dann entschwinden alle vorher gesprochenen Worte durch den schmalen Spalt unter der Tür, der im Gegenzug noch für einen Moment etwas Licht aus dem spärlich beleuchteten Flur in dein kleines Zimmer lässt. Dann aber ist es dunkel und du weißt, nun kann jeder mit dir machen was er will.

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