06/XI/14

Im Traum der letzten Nacht besuchte mich meine Mutter. Ich lebte in einem Haus, das nur ein Zimmer hatte. Mutter stand in der Mitte des Raumes und man konnte ihr ansehen, wie unsicher und fremd sie sich fühlte. Besucht sie doch sonst nur Träume von Menschen, die sie für ihre Freunde hält.

Das Zimmer war voller unglaublicher Dinge – Bücher, Filme, Gedanken, Ängste, Flüche – die sie aus sicherem Abstand betrachtete. Manchmal bewegte sich Mutter in Richtung eines Regales oder hin zu einer Truhe, aber sie traute sich nicht etwas zu berühren. Es schien, als hemmte eine heilige Ehrfurcht die Lust ihrer Finger.

Irgendwann setzte sie sich auf den Boden, schaute mich an und fragte:

„Junge, und all das ist gut für dich?“

Das Haus faltete sich ein und für einen Moment lagen wir Zahn an Zahn. Dann blies es sich weit auf, so weit, dass zwischen uns Wälder und Wüsten wuchsen. Jahrelang suchten wir einander und fanden uns schließlich in einer Hütte. Darin brannte warm ein Kamin. Auf dem Esstisch stand eine Schneekugel, die mein Haus gefangen hielt. Ich gab sie meiner Mutter und sagte:

„All das ist gut für dich.“

 

Danach träumte ich noch eine Schrift mit dem Titel: „Wer zwischen Buchdeckeln lebt, darf sich nicht wundern, wenn er umgeblättert wird.“

03/X/14

In meinem Besitz befinden sich einige Dinge, die sich nicht von mir trennen wollen. Einige Male habe ich sie schon in die Mülltonne geworfen oder auf den Wertstoffhof gebracht, nur um sie anderntags wieder bei mir zu Hause vorzufinden. Verschenken, verbrennen, mit Säure übergießen oder in einem Gewässer versenken funktioniert ebenso wenig.

Da sind die alten Fußballschuhe, die ich nur ein einziges Mal getragen habe als ich unerlaubter Weise am Training des Fußballvereins meiner Heimatstadt teilgenommen hatte. Mein Vater hasste alles was mit Vereinen zu tun hatte, meinte, ich sei dort schlechten Einflüssen ausgesetzt und überhaupt könne ich im Garten viel besser kicken, als auf einem verletzungsfördernden Ascheplatz.

Die Krawattenklammer, die ich bei meiner Konfirmation trug. Ein kleiner Lapislazuli in Messing eingefasst. Die Klammer war aber so fest, dass meine Krawatte aussah, als wolle man sie mittig erwürgen.

Mein erster Roman, den ich auf der Hermes Baby meines Vaters innerhalb von drei Tagen heruntergetippt hatte. Ohne Absatz und mit sparsamer Satzzeichenverteilung. Aber einem unvergleichlich guten Plot. Jedenfalls für einen Zehnjährigen.

Eine Karte, die meine Mutter mir geschickt hatte, nachdem ich mit zwei Freunden eine WG gegründet hatte. Michel und Tom waren nicht gerade das, was meine Eltern sich unter einem guten Umgang für ihren Sprössling vorstellten, ich aber liebte die beiden und wollte gerne so cool und lässig sein wie sie. Wir trugen olivgrüne Parka, weite Cordhosen und Kufiyas. Auf der Karte war ein schwarzer Pinguin abgebildet, inmitten einer Schar weißer Vögel. Darunter geschrieben: Be yourself

Eine phallische Unmöglichkeit, die ich von einer Studienreise durch Griechenland mitgebracht hatte.

 

Ich frage mich, warum diese Dinge so unbedingt in meiner Nähe bleiben wollen. Und warum ausgerechnet diese. Unzählige andere Sachen habe ich schon weggeworfen oder verschenkt und sie kamen nicht zurück. Meine Freundin meint, sie seien wie Magnetsticker auf dem Kühlschrank. Sie wollten mich daran erinnern, etwas Wichtiges nicht zu vergessen.

Mag sein. Ich glaube eher, sie möchten mich einfach nur überleben.

Aufwachen

Gleich wird sie aufwachen. Sie wird die Augen aufschlagen, einige Male noch blinzeln bis das Bild sich schärft und mich dann ansehen. Und in diesem ersten Blick werden die Entscheidungen der nächsten Monate und Jahre liegen, die Kämpfe, die Vorwürfe, die Verzweiflung. Alles was kommt wird in diesem ersten Blick sein – als Schleier, als feuchter Film über den Pupillen, als kleine Flammen auf der Iris.→ weiterlesen

Die schwache Hoffnung

Jean Amérys beeindruckender Essay An den Grenzen des Geistes schildert die Konfrontation eines humanistischen Intellektuellen mit dem Grauen der NS-Vernichtungslager. Anschaulich beschreibt der Auschwitz-Überlebende die Hilflosigkeit, mit der er als „Geistesmensch“ der absoluten Entmenschlichung gegenüberstand. → weiterlesen