Aufwachen

Gleich wird sie aufwachen. Sie wird die Augen aufschlagen, einige Male noch blinzeln bis das Bild sich schärft und mich dann ansehen. Und in diesem ersten Blick werden die Entscheidungen der nächsten Monate und Jahre liegen, die Kämpfe, die Vorwürfe, die Verzweiflung. Alles was kommt wird in diesem ersten Blick sein – als Schleier, als feuchter Film über den Pupillen, als kleine Flammen auf der Iris.
Noch sind ihre Augen geschlossen, nur die Bewegungen ihres Körpers verraten, dass sie aus der Bewusstlosigkeit in den Schlaf hinübergeglitten ist. Die schlaffen Gesichtszüge spannen sich ein wenig an. Aber es ist nicht ihr Schlafgesicht. Ihr Schlafgesicht ist ein ruhiger See. Es ist auch nicht ihr Schlafmund, der beständig zu lächeln scheint als träume sie nur Musicals und Märchen. Einmal sagte ich zu ihr, wenn du schläfst, dann siehst du aus als träumtest du nur Musicals und Märchen, und sie antwortete mit einem Lächeln und dem spitzbübischen Aufleuchten ihrer grünen Augen.

Nicht ihr Schlafmund ist es, eher ihr Zweifelmund, als wäre der Weg zum Aufwachen ein Lauf durch Stimmen, denen sie keinen Glauben schenken mag. Wenn sie etwas hört, was sie nicht glauben kann oder möchte, dann hat sie diesen Zweifelmund, die Lippen leicht zusammengeschoben, ein Kussmund fast, wenn er nicht in der Mitte solch kleine Falten hätte.

Ich sehe ihr Gesicht, das nicht ihr Schlafgesicht ist, und somit kein ruhiger See. Etwas bewegt sich unter der Oberfläche, wirbelt den Boden auf. Ein Fisch mit seinen Flossenschlägen. Der Fisch des Schmerzes, der Fisch der Schuld. Wenn sie die Augen öffnet, wird er auftauchen.

Wir haben unser Kind getötet, haben zusammen diese Entscheidung getroffen und doch werden wir diese Last nicht gemeinsam tragen, sie nicht gleichmäßig zu verteilen wissen. Wir werden versuchen umzuschichten, sie wird es versuchen mit ihren ersten Blicken. Wenn sie aufwacht, wird sie den Schmerz ganz für sich beanspruchen, die Schuld aber wird sie mir übergeben und ich werde sie annehmen, so wie ich bisher alles angenommen habe.

Da waren die Jahre des Aufopferns, der Sisyphusarbeit in den Straßen von Guayaquil, wo es darum ging, jungen Menschen eine Perspektive zu geben, Alternativen zu Gewalt und Verbrechen, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen, Achtung vor den Mitmenschen. Dazu die schwangeren Mädchen und immer die Frage, was zu tun sei. Sie kämpfte um jedes Kind und gleichzeitig für die Mutter. Manchmal glücklich, manchmal unglücklich endete der Kampf, aber das Gefühl nicht tatenlos zuzusehen – darum ging es ihr. Um ihren Traum, ein Stück Gerechtigkeit in die Welt zu bringen, und ich träumte ihn mit, nicht weil es auch meiner gewesen wäre, sondern weil ich keinen eigenen hatte.

Nach fünf Jahren – Zeit, die mir heute vorkommt wie das endlose Anschwellen eines Muskels bis hin zu Krampf und Erschlaffung – sagt sie, ich möchte ein eigenes Kind. Ich war überrascht, weil es so plötzlich kam, es auf einmal gar kein anderes Thema mehr gab, eigene Kinder zuvor nie ein Thema gewesen waren, am Anfang unserer Ehe sogar ein Streitpunkt. Wie kann man nur, hatte sie immer wieder gesagt, in diese Welt Kinder setzen, wenn schon so viele da sind, um die sich keiner kümmert? Und nun, inmitten dieser Kinder, um die sich keiner kümmerte, inmitten der Beweise für die Richtigkeit ihrer Vorbehalte gegen eigene Kinder, diese, wie sie sagte, unwiderrufliche Entscheidung genau dafür.

Zunächst erschien es mir wie eine Kapitulation. Verständlich, wenn man bedenkt, dass wir eine völlig aussichtlose Mission verfolgten. Auf jedes Kind, dem wir helfen konnten, kamen Hunderte, für die wir nichts tun konnten. Und immer wieder versagte man bei dem Versuch, Abstand zu halten. Gerade da, wo es am nötigsten gewesen wäre, bei den hoffnungslosen Fällen, den Klebstoffschnüfflern, den unverbesserlichen Dieben und Schlägern, bei den vierzehnjährigen Strichmädchen und dreizehnjährigen Müttern. Alle diese Fälle bedeuteten Niederlage und Verlust. Und einen ständig wachsenden Zweifel am Wert der eigenen Arbeit, eine Erosion der Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen. Am Schluß erkennst du: Wenn dein Altruismus verbraucht ist, bleibt dir nur noch die Konzentration auf dich selbst.

Wir verließen Südamerika, zogen zurück nach Deutschland, arrangierten uns, warteten jeden Monat darauf, dass die Weltgerechtigkeit ihre Schulden bei uns begliche. Zwischendrin hielt ich inne und überlegte, was da mit uns passiert war, was da mit ihr passiert war, wie radikal und ausschließlich ihr Umschwung war, wie radikal sie einen Traum gegen einen anderen eingetauscht hatte und welche Schwierigkeiten es mir bereitete, ihr dabei zu folgen; wie unmöglich es mir war, darüber zu reden. Sie hat es verdient, dachte ich mir dann. Diesen neuen Traum hat sie sich verdient und auch seine Erfüllung, so hart, wie sie für den alten Traum gekämpft hatte und dabei schuldlos unterlegen war.

Zwei Jahre geplanter Sex, berechneter Sex, aber sie wurde nicht schwanger. Untersuchungen folgten, bei ihr ergebnislos, mir jedoch beschied ein Spermiogramm, dass ich zu 95 Prozent zeugungsunfähig war.
Wenn das bei Ihnen von selbst klappen sollte, sagte der Arzt angesichts des Befundes, dann wäre das ein Sechser im Lotto. Eher werden sie noch vom Blitz erschlagen.

Die nächsten Monate gehörten nun den verbleibenden fünf Prozent meiner Manneskraft, aus unzähligen Ejakulaten extrahiert, um in-vitro Eizellen zu befruchten, die ihr entnommen und dann wieder eingepflanzt wurden. Und jedes Mal die Enttäuschung, wenn es nicht funktionierte, wenn dieses Zellknäuel nicht andocken wollte an der Plazenta. Eine Abwärtsspirale, die mit jedem Versuch ihr Gefälle verstärkte. Man nahm stetig an Fahrt zu, obgleich alles unwirklicher wurde, mehr Sex mit einem Plastikbecher, als mit der eigenen Frau, der Wichsraum beim Reproduktionsarzt, rot tapeziert, ein Sessel mit Plastiküberzug, eine Dusche, Aktfotos an den Wänden, Männermagazine, unterdrückter Orgasmus, denn nebenan, nur durch eine Wand getrennt, war das Labor, eine kleine Klappe, gleich neben einem der Bilder, die man öffnete, um den vollgewichsten Becher abzustellen, mauerbreit das Fach und auf der anderen Seite ebenfalls eine Klappe, dahinter professionelle Leidenschaftslosigkeit, die viel wichtiger schien, als jedwede zärtliche Berührung.

Nach sieben Versuchen hatten wir kein Geld und keine Kraft mehr. Langsam erwachten wir, als wäre alles ein Rausch oder ein Vollmondtraum gewesen. Wir schmiedeten kleine Pläne und versorgten unsere Wunden, ab und zu sogar gemeinsam.

Und dann, etliche Monate nach dem letzten Versuch, wurde sie schwanger, vom Zufall befruchtet. Zum allerersten Mal hatte ich das Gefühl, daran beteiligt gewesen zu sein. Nicht, weil mir der Umweg über den Wichsraum erspart geblieben war, sondern weil aus dem Unerwarteten eine ganz besonderes Gefühl herausströmte, als wäre es nur allein deswegen gut und richtig, weil es nicht geplant und scheinbar aus dem Nichts kam.

Zuviel war schon schief gegangen, als dass wir uns uneingeschränkt hätten freuen können, aber mit jedem Tag wuchs die Hoffnung. Und meine Frau erschien mir erstmals glücklich aus sich selbst heraus.

Das Fruchtwasser jedoch spiegelte ein Monster, eine Vision aus verkrampften Gliedmaßen und vegetativer Hirntätigkeit. Sie stürzte ab und ich wurde zum Spiegel. Alles was sie sagte, warf ich auf sie zurück. Bestätigte ihre Ängste und ihre Bedenken, aber kein einziges Mal sagte ich, lass es uns machen, oder, lass es uns nicht machen. Kein einziges Mal sagte ich, das schaffen wir zusammen, egal was kommt. Immer nur sagte ich, wenn sie sagte, aber es kann doch keiner hundertprozentig wissen, ja, es kann keiner hundertprozentig wissen. Und wenn sie sagte, eine solche Behinderung macht ein Leben nicht lebenswert, sagte ich, ja, es macht es nicht wirklich lebenswert. Aber wenn sie danach, fast im selben Moment meinte, aber es ist dennoch nicht wirklich sicher, bestätige ich auch dies und nickte, wenn sie von der Nachbarin ihrer Mutter erzählte, die zwanzig Jahre zuvor eine ähnliche Diagnose erhalten, aber nicht abgetrieben hatte und deren Tochter völlig gesund war und ihrer Mutter beinahe jeden Tag dafür dankte, dass sie leben durfte. Ich stimmte ihr zu, wenn sie sagte, dass dies ja nur eine Minderheit sei, die Davongekommenen. Die Mehrheit hätte keine Stimme, weil sie im Orkus landeten und keiner wirklich wisse, was aus ihnen geworden wäre. Ein riesiger Leichenberg von Hypothesen, und ich sagte, ja, ein riesiger Leichenberg von Hypothesen. Und sie sagte, aber eben auch immer Leben dahinter, Leben das ging, Leben das blieb und niemand weiß, was wirklich besser gewesen wäre, aber die, die weiter leben, müssten das Beste daraus machen, und ich sagte, ja, man muss das Beste daraus machen und streichelte ihre Hand als würde ich sie unterstützen. Dabei warf ich sie jedes Mal auf den Boden, warf sie abwechselnd ins Feuer und ins Wasser. Am Ende trafen wir eine Entscheidung, aber es war die ihre, eine Entscheidung aus dem Mangel an Kraft heraus, aus der Unvorstellbarkeit mit vierzig Jahren noch einmal die Energieleistung aufzubringen, sich einem Wesen voll und ganz zu verschreiben, das niemals in diesem Leben ankommen würde, das man goss wie eine Pflanze und fütterte wie ein Tier, das man lieben würde, auch wenn es einen aufzehrte, und am Ende würde es sterben, so wie es geboren worden war, unter Schmerzen und man würde zurückbleiben, ohne die Kraft noch einen oder zwei Atemzüge zu tun. Dann lieber die Gnade für alle, sagte sie und ich stimmte ihr zu.

So hat sie die Entscheidung getroffen weil ich feige und bequem ihrer Spur gefolgt bin, wie ich damals ihrem Traum, die Welt ein Stück besser zu machen gefolgt bin, ohne dass es auch meiner gewesen wäre, sowie ihrem Traum von einem eigenen Kind, ohne dass auch dieser mein eigener gewesenen wäre, und wenn sie gleich aufwacht und die Augen öffnet, dann wird in diesem Blick alles umgekehrt und meine Entscheidungslosigkeit wird zur Entscheidung werden, mein Abwälzen wird zurückschoben, mein Nichthandeln wird zum Handeln werden.

Ein schlechtes Gewissen kann man nicht teilen. Jeder muss mit seinem eigenen Gewissen zurechtkommen. Wenn ein Paar wegen einer gemeinsamen Entscheidung ein schlechtes Gewissen hat, so wird im Laufe der Zeit wenigstens einer diese Belastung dem anderen zum Vorwurf machen.

All das wird in ihrem Blick liegen, wenn sie gleich aufwacht.

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