Über Marcel Reich-Ranicki
Hat man als Literaturliebhaber seine medialen Filterblasen richtig justiert, dann spülte es einen in den letzten Tagen eine Menge Reich-Ranicki in die Timeline. Nicht zufällig, immerhin wäre der bekannteste aller deutschen Literaturkritiker (der wahrscheinlich bis in alle Zeit der bekannteste aller deutschen Literaturkritiker bleiben wird, weil dieses Geschäft, so wie er es verstand und betrieben hat, mit ihm ausgestorben ist) am 02. Juni 2020 einhundert Jahre alt geworden.
Wäre es nach den Nazis gegangen, hätte er seinen dreißigsten Geburtstag nicht mehr erlebt. Seine Biografie „Mein Leben“ zählt zu den für unsere Gesellschaft so immens wichtigen Zeugnissen aus einer Zeit der absoluten Verrohung und Erosion jedweden menschlichen Anstands. Gehörte man zu den Stigmatisierten, den aus der Gemeinschaft der Menschen per Definition und Dekret Ausgestoßenen, war Überleben eine Glückssache. Bei Marcel Reich-Ranicki und seiner Frau Teofila aber nicht nur. Auch die Literatur hatte damit zu tun und das ist keine auf psychologischer Kaffeesatzleserei beruhende Feststellung, sondern eine handfeste Tatsache. Und das berührt letztlich einen Punkt, der völlig jenseits davon steht, was man nun von M.R.R als Literaturkritiker hält. Er kehrte dem Land und der Sprache jener, die ihn töten wollten, nicht den Rücken, sondern hatte die Kraft und den Großmut, ihnen die Hand zu reichen. Leicht war es nicht, denn er blieb bei all seinen Bemühungen ein Außenseiter. Der Deutsche ist sehr nachtragend, wenn man ihm etwas antut. Nachtragender ist er nur gegenüber jenen, denen er etwas angetan hat.
Aber M.R.R zahlte es ihnen heim. Durch seine Unerbittlichkeit, seine Gradlinig- und Furchtlosigkeit und dem, den Teutonen so völlig abgehenden Mangel an Respekt vor jenen, die sie als „Götter“ betrachteten. Den Preis, den Reich-Ranicki dafür bezahlte: Einsamkeit, wie er selbst einmal in einem Interview, nicht lange vor seinem Tod bemerkte. Und natürlich Tötungsphantasien von Schriftstellern, die sich durch ihn bedroht oder gar geschädigt sahen.
Hat er Schriftstellerkarrieren beschädigt? Ich glaube, er hat einige zumindest für eine Zeit gebremst. Nicht dadurch, dass deren Bücher weniger verkauft wurden. Aber seine apodiktischen Urteile waren trefflich dafür geeignet, Selbstvertrauen zu zerstören und den Verrissenen in einen Verteidigungsmodus zu versetzen, der jegliche Kreativität für mehr oder weniger lange Zeit unterbandt. Die meisten werden sich davon erholt haben und man sieht ja heute, wo ein neuer M.R.R. nirgendwo am Horizont zu sehen ist, wie die Talente auf- und wieder abtauchen und nur ganz wenige es schaffen, in den obersten Regionen der öffentlichen Wahrnehmung zu verbleiben.
Ein weiterer Preis: Man erinnert sich an ihn heute meist nur noch wegen seiner Auftritte beim Literarischen Quartett, seinen Kontroversen mit Gras und vor allem mit Walser. Nur wenige gedenken seiner unermüdlichen Arbeit als Feuilletonchef bei der F.A.Z, der Arbeit als Herausgeber der Frankfurter Anthologie, Herausgeber von Lyrikanthologien und den Kanons deutscher Romane, Erzählungen, Lyrik und Essays. Letztere befindet sich in meinem Besitz und wird mir bis an mein Lebensende immer wieder Freude bereiten ob der Vielzahl von essayistischen Perlen, die sich darin befinden. Ihm selbst war ja dieser mediale Ruhm suspekt, was sich letztlich auch darin zeigte, dass er den Deutschen Fernsehpreis auf die ihm ganz eigene, unsensible Art und Weise ablehnte. Dass er dies vor laufenden Kameras tat, bezeugt die Ambivalenz seines Verhältnisses zur Öffentlichkeit. Einerseits hatte er sie immer gesucht, andererseits musste er immer wieder erleben, wie sie ihm die so ersehnte „Einbürgerung“ verwehrte.
Persönlich ist mir die Art wie M.R.R seine Literaturkritik betrieb mittlerweile fremd. Früher, in Zeiten des Suchens nach einem eigenen Standpunkt, war die Lektüre seine Bücher und Artikel so etwas wie Ankerpunkte, an denen ich mich orientieren konnte. Ein gehörige Portion Neid war auch mit im Spiel, wollte ich mir in meinem Urteil doch einmal so sicher sein, wie er. Und wenn du dir deiner selbst nicht sicher bist, dann liest du lieber einen Verriss von Büchern derjenigen, denen du dich weit unterlegen fühlst, als irgendwelche Lobeshymnen, welche dir deine Inferiorität nur bestätigen.
Heute sehe ich es naturgemäß anders, man entwickelt sich weiter und emanzipiert sich von seinen Idolen und Souffleuren und das bockige Verteidigen des eigenen Geschmacks als oberste Instanz für das, was gute oder eben nicht gute Literatur ist, erscheint mir als hinderlich wenn es darum geht, in einem Buch oder einer Erzählung sich auf die Suche nach Orten zu begeben, an denen man sich selbst begegnet. Denn nur darum geht es in der Literatur. Es gibt nichts sinnloseres als Kritik an einem Buch, das mich kalt lässt, dem es auf keiner Seite gelingt, Kontakt mit mir aufzunehmen. Weil diese Kritik sich genau an diesem Punkt festmacht und ihn nicht verlassen kann. Nicht umsonst konnte M.R.R. manchmal nichts anders sagen als: „Das langweilt mich.“ „Das ist blöd.“ „Das ist untalentiert“ usw. Diese Mühe kann man sich sparen. Kritik setzt erst dann an, wenn eine Verbindung zwischen dem Kritiker und dem betrachteten Gegenstand entsteht. M.R.R sagte einmal, Offenheit ist die Höflichkeit des Kritikers. Ich dagegen möchte nicht höflich sein gegenüber den Büchern, die ich lese. Ich möchte leidenschaftlich sein und das kann ich nur, wenn mich die Lektüre jenseits der Frage, ob mir nun gefällt, was ich lese oder ob es meinen Qualitätsmaßstäben entspricht, berührt.
Reich-Ranickis Kritiken waren immer Plädoyers für die Literatur. Aber immer nur für das, was er unter Literatur verstand. Er war einem kategorischen Denken verhaftet, das einfach nicht mehr in unsere heutige Zeit passt.
Anderseits hätte ich ohne M.R.R und das Literarische Quartett nie etwas von Javier Marias und seinem Buch „Mein Herz so weiß“ gehört. Und mir würde damit einer der schönsten Leseerfahrungen meines Lebens fehlen.
Noch einen Preis zahlen wir alle für die Ausnahmestellung, die Marcel Reich-Ranicki in der deutschen Literaturkritik der Bundesrepublik einnimmt. Dafür trägt er keine Schuld, sie bedingt sich durch die mediale Aufmerksamkeit, die er durch das Literarische Quarte bekam. Niemand spricht heut mehr von Hans Mayer, Joachim Kaiser oder Fritz J. Raddatz. Sie alle waren leidenschaftliche Leser, Kenner der deutschen Literatur und haben wunderbare Bücher über Schriftsteller und ihre Werke geschrieben, die zu lesen selbst heute noch ein wirkliches Erlebnis ist. Hans Mayer hat ein Vierbändiges Werk „Deutsche Literaturkritik“ herausgebracht, das den Kanons von Reich-Ranicki in nichts nachsteht, ja vielleicht in der Treffsicherheit der Auswahl noch überragt. Raddatz Analysen der deutschen Literatur sind, weil sie sich auf Nebenpfaden bewegen und die Posterboys der Nachkriegsliteratur gerne außen vorlassen, von einer Tiefgründigkeit, gerade auch im politischen Sinn, die Reich-Ranicki nie erreicht hat. Joachim Kaiser dagegen ist ein Liebender, ein Feingeist bei dem jeder Gegenstand, den er sich zur Betrachtung in die Hand nimmt, danach ein Stück schöner und glänzender ist.
Ich glaube, diese drei Autoren haben für die deutsche Literatur ebenso viel geleistet wie Reich-Ranicki, nur auf andere, subtilere und teilweise auch verkopftere Art.
Wo Marcel Reich-Ranicki sie aber überstrahlt, ist in seiner einzigartigen Position als Kämpfer für eine Sprache, in der die Tötungsbefehle gegen seinesgleichen gebrüllt wurden und seinen unerschütterlichen Glauben daran, dass jenes Gebrüll das Schöne dieser Sprache nur verdeckt, aber nicht zerstört hatte.