Ich bin Leser und ein leidenschaftlicher Erwerber von Büchern. Ab und zu schreibe ich über das Gelesene. Zu dem, was man landläufig einen Buchblogger nennt, reicht es allerdings nicht, da ich die Angewohnheit habe, viele, ja sehr viele Bücher gleichzeitig zu lesen, was die Lesezeit der einzelnen Werke in die Länge zieht und eine kompakte, das Leseerlebnis in all seinen Facetten umfassende Beschreibung unmöglich macht, ist der Eindruck durch die Lektüre vieler anderer Bücher doch überlagert und verwaschen.
Nur ganz selten gelingt es mir, an einem Buch wirklich „dran zu bleiben“. Dann entstehen auch Texte, die man als Rezension bezeichnen könnte. Nur – das ist nicht das Ziel meines Lesens. Mir geht es nicht darum, Bücher zu konsumieren, um anschließend daraus eine Meinung über deren Qualität zu destillieren, die dann als Leseempfehlung oder Nichtempfehlung serviert wird. Was ich suche, ist das Gespräch. Nicht zwischen mir und einem bestimmten Buch, sondern zwischen den Büchern selbst, während ich selbst nur die Rolle eines Beobachters einnehme. Natürlich formen sich Ansichten, Zu- und Abneigungen, Tendenzen, Vorlieben und hie und da auch Überzeugungsfelsen, die nur noch schwer von der Stelle zu rücken sind. Trotzdem bleibt alles in Bewegung, wie es das Denken auch sein sollte. Das Starre ist der Feind des Geistes. Ideologien sind Garagen für müde Hirne, Raster und Schablonen Gehhilfen für beinlose Gemüter. Eine Bibliothek, deren Bücher nicht fortwährend im Streit sich befinden, ist keine Bibliothek, sondern die Innenwand einer Blase.
Kaum ein Buch ist zufällig in meiner Bibliothek. Die meisten habe ich aus Gründen angeschafft, die mit reinem Interesse nur unzulänglich beschrieben wären. Sie zu erwerben gründete sich in der Überzeugung, genau diese Stimme fehle noch im Chor meiner Bücher.
Bibliothek ist zugegebenermaßen ein großes Wort. Ich denke dabei immer an weite und hohe Räume, gefüllt mit sich bis an den Horizont erstreckenden Bücherregalen. Spreche ich von meiner Bibliothek, meine ich damit die gut 1000 Bücher, die ich in den letzten Jahren erworben habe (zuvor war ich ein leidenschaftlicher Bibliotheksbesucher) und die einen ständigen Unruheherd in meinem geistigen Leben bewirken. Die einen wollen endlich gelesen, die anderen endlich wiedergelesen werden. Nur ganz wenige sind verstummt und haben sich damit abgefunden, einfach nur noch da zu sein, als kleiner Teil einer umfassenden Geschichte, zu der sie nur wenig beigetragen haben.
Was sich in meiner Sammlung tatsächlich verbirgt, ist meine eigene Biografie, die zu schreiben ich mir zwar immer wieder vornehme, aber meist schon scheitere, wenn ich entscheiden muss, auf welche Weise ich sie erzählen möchte. Dann lieber die Bücher reden lassen. Sie können viel anschaulicher das bebildern, was mir aus meinem Leben wirklich als zeigenswert erscheint. Nicht das Aufwachsen und Leben in der Sekte mit all seinen Manipulationen und Missbräuchen, nicht das eigene Versagen, das darin besteht, so lange Mitläufer und Funktionär gewesen zu sein; nicht die sozialen Beben, die der Ausstieg mit sich gebracht hat, sondern die fantastische Reise im Denken, die intellektuelle Abenteuerfahrt, die es bedeutete vom christlichen Fundamentalisten zu einem Menschen zu werden, der sich im Denken keine Fesseln mehr anlegen lassen und den Rest seines Lebens damit zubringen möchte, zu lernen.
…schon 2003 schrieb Klaus Theweleit in seinem Buch „der knall“ über den israelisch-palästinensischen Konflikt:
„Zu diesem Konflikt selbst denke ich, dass Deutschen nach wie vor Zurückhaltung ansteht besonders in der ‚Beurteilung‘ oder gar Verurteilung israelischer Handlungen gegenüber Palästina. Die politische und menschliche Verpflichtung zur Solidarität mit dem Staat Israel sehe ich keineswegs aufgelöst durch ‚kritisierbare‘ Handlungen mancher seiner Funktionsträger. Es gibt genügend kritische Menschen auf der Welt und in Israel selbst, die nicht nur hinsehn, sondern sich auch äußern und zudem meist besser informiert sind. ‚Wir‘ sind für diese Funktion nicht vonnöten. Politische Wahrheiten sind im übrigen nie ‚abstrakt‘. Im Munde von Dummschnäbeln werden sie zu Dummheiten; Möllemänner können vielleicht etwas Zutreffendes über Schalke 04 aussagen; über Israel/Palästina können sie es nicht.“
Der Möllemann hat sich ja selbst erledigt, aber genügend andere sind an seine Stelle getreten und egal ob sie nun Gabriel, Steinmeier oder Maas heißen, es stünde ihnen wirklich besser an zu schweigen. Zumal sie regelmäßig denjenigen den Hof machen, die ihre Vernichtungsfantasien was die Juden betrifft, verbal hemmungslos ausleben.
Die von Theweleit angesprochene Kritik aus Israel selbst gibt es zu genüge. Man braucht nur zu sehen, welche Artikel in der israelischen Zeitung Haaretz erscheinen. Oder man nehme das Buch “Israel” von Eva Illouz zur Hand. Dagegen erscheinen die Verlautbarungen eines Todenhöfer, Tilo Jung oder wie sie alle heißen, wie die Versuche eines des Lesens noch unkundigen Vorschülers, eine Buchkritik zu verfassen.
Derweil ist es schön zu sehen, wie vielen Linken, BDSlern und sonstigen „Israelkritikern“ die Argumente verloren gehen in dem Maße, in dem mehr und mehr Teile der arabischen Welt realisieren, dass nicht Israel das Problem im Nahen Osten darstellt, sondern islamistische Verbocktheit, die von Teheran über die Türkei bis nach Gaza reicht. Das Schweigen der EU und vor allem Deutschlands zu dieser Entwicklung spricht Bände und zeigt deutlich, außer Lippenbekenntnisse kann Israel aus dieser Richtung nichts erwarten.
Noch sind die Abkommen neu, vieles ist noch Verlautbarung und die Entspannung sehr fragil, aber wenn nicht irgendein religiöser Fanatismus dieses Aufflackern von Vernunft, vor allem auf der arabischen Seite, wieder wegspült, wird der Nahe Osten sich in den nächsten Jahren grundlegend verändern. Nach und nach werden die arabischen Staaten verstehen, dass auf der Gewinnerseite zu stehen heißt, mit Israel zu stehen. Übrig bleiben auf der anderen Seite dann nur noch die völlig Verbohrten und täglich im Glaubenshass badenden, wobei zu hoffen ist, dass hier eine in ihrem Denken immer säkularer werdende Gesellschaft, wie zum Beispiel im Iran und auch der Türkei, den Herrschenden irgendwann einen Strich durch ihre fundamentalistische Rechnung macht.
Sollte dieser ganze Prozess so stattfinden, wird weder Deutschland, noch die EU eine Rolle dabei spielen. Deswegen sind ihrer gesamten Repräsentantenschar die Worte Theweleits ans Herz zu legen, am besten einfach die Klappe zu halten.
Volker Ullrichs Buch über die letzten Tage des dritten Reiches ist ein gut lesbares, im Großen und Ganzen jedoch entbehrliches Buch, fügt es dem Wissen um das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa nichts Wesentliches hinzu. Ullrich macht nur ein ganzes Buch aus dem, was in anderen Abhandlungen zum Thema lediglich das letzte Kapitel bildet. Es sei denn, man betrachtet gewisse Anekdoten als Erkenntnisgewinn, zum Beispiel jene über Marlene Dietrich, deren Schwester mit ihrem Mann in der Nähe des Konzentrationslagers Bergen-Belsen ein Kino betrieb in dem die schwer arbeitenden SS-Männer und Wehrmachtsoldaten sich auf andere Gedanken bringen lassen konnten. Als Marlene davon erfuhr, traf sie sich mit ihrer Schwester und erkaufte sie sich deren Schweigen, fürchtete sie doch, ihr Ruf als engagierte Kämpferin gegen Nazi-Deutschland könnte durch das Bekanntwerden dieses belastenden Verwandtschaftsverhältnisses Schaden nehmen.
Mit den letzten Tagen des Dritten Reiches hat das natürlich nichts zu tun, aber es bedient jene Leserschaft, die mit dem Namen Marlene Dietrich mehr anfangen kann, als mit Keitel, Jodl oder Dönitz.
Zu einem aber taugt Ullrichs Buch, und zwar um mit dem Unsinn aufzuräumen, den Weizäcker mit seiner Bundestagsrede am 8. Mai 1985 in die Welt gesetzt hatte, als er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnete. Befreit wurden damals nur diejenigen in den Lagern, die Versteckten wie ein Hans Rosenthal oder solche, die nur durch die bedingungslose Loyalität ihrer Partner vor der Deportation bewahrt wurden, wie zum Beispiel Viktor Klemperer. Der Rest der Deutschen wurde nicht befreit, sondern besiegt.
Die von Hitler als seine Nachfolge eingesetzte Regierung um
Dönitz sah zwar ihre militärische Niederlage ein, wollte aber nur allzu gerne
den Nationalsozialismus weiterführen. Die Alliierten natürlich machten ihnen
einen Strich durch diese selbstherrliche Rechnung und verhafteten die ganze braune
Bande nur wenige Tage nach dem die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet
war. Dies geschah sogar zwei Mal, zunächst in Reims und dann auf Drängen der
Russen nochmals in Berlin. Auf dem Weg dorthin kommentierte Keitel mitleidig die
umfassende Zerstörung der deutschen Städte, durch die sie fuhren, worauf sein
russischer Begleiter nur bemerkte, dass dessen Soldaten dies in weit größerem
Maße in seiner Heimat verursacht hatten. Und genau darin lag das Problem, nicht
nur bei der Führung der Wehrmacht und dem schmalen Kontingent an Obernazis, denen
es noch nicht gelungen war, sich umzubringen, sondern der Bevölkerung des
ganzen Landes: Der völlige Mangel an Schuldbewusstsein. In seiner Abschiedsrede
beschwor Dönitz den heldenhaften Kampf der Deutschen, als hätte sich die ganze Welt
gegen sie verschworen und jede Kugel, die aus einem deutschen Gewehrlauf abgefeuerte
wurde, tat dies nur im Dienste reiner Selbstverteidigung. Von den Konzentrationslagern
hatte natürlich niemand gewusst. Überhaupt war nach dem 8. Mai 45 niemand, der
noch am Leben war, jemals Nazi gewesen, sondern hatte sich in die innere Emigration
begeben, still hoffend und betend, dass der nationale Taumel bald vorüber sei.
Wenn Deutschland befreit wurde, dann am 30. April 1945, dem Tag, als Hitler seinem unsäglichen Leben ein Ende setzte. Es wurde befreit von dem Dämon, der es geschafft hatte die dunkelste Seite in den germanischen Seelen freizusetzten und diese erbarmungslos und inbrünstig auszuleben. Nur machte sie dies nicht zu seinen Opfern. Sie taten es aus freien Stücken, weil sie teilhaben wollten an den von ihrem Führer herausgebrüllten Allmachtsfantasien.
Als der Spuk dann vorbei war und sie nicht mehr hatten als
das nackte Leben, bestand die einzige Möglichkeit der Konfrontation mit ihrem
bösen und dunklen Selbst zu entgehen darin, sich als Opfer zu stilisieren und
fleißig am Wiederaufbau mitzuwirken. Aber hier sind wir schon viel weiter, als
Ullrichs Buch gehen möchte. Es macht da halt, wo es anfängt spannend zu werden.
Was nicht schlimm ist, denn es gibt genügend kluge Menschen, die weit tiefer in
den Stoff eingedrungen sind als er.
Natürlich ist Acht Tage im Mai mehr als Guido Knopp, zielt es doch nicht nur auf wohliges Gruseln, sondern möchte in bester Absicht Fakten vermitteln. Man kann es jedem empfehlen, der vom Ende der Nazi-Regierung nicht mehr weiß als das, was in dem Film Der Untergang gezeigt wurde. Letztendlich aber reiht es sich ein in die Vielzahl von Betrachtungen, die zwar in aller Aufrichtigkeit verfasst wurden, dem Leser, vor allem dem deutschen, aber dennoch das Gefühl vermitteln, mit all dem nichts mehr zu tun zu haben, auch wenn Ullrich im letzten Satz des Buches dazu auffordert, sich des großen Glücks in einer freiheitlichen Demokratie zu leben bewusst zu werden. Aber es geht hier halt nicht um die Schlacht im Teutoburger Wald, sondern um die sagenhafte Implosion eines ganzen Landes mitsamt seines narzistischen Selbstbildes, auf die der Aufbau jener Gesellschaft folgte, in der wir heute leben und deren Grundlagen wieder von vielen Seiten angegriffen werden. Da hätte ich mir schon etwas mehr Gegenwartsbezug gewünscht. Aber das lag wohl nicht im Sinne des Verfassers. Verkaufen lässt sich das Buch, so wie es ist, natürlich wesentlich besser.
Von Hölderlin wusste ich bisher nur, was man bei der Beschäftigung mit deutscher Literaturgeschichte nebenbei aufschnappt: Lyriker mit Hang zum Elegischen, zu Lebzeiten eher verkannt und in einem Turm hausend langsam verrückt geworden. Das eine oder andere Zitat vermochte ich ihm zuzuschreiben, aber nur, weil es in den allgemeinen Sprachkatalog der nicht ganz Unbelesenen Einzug gefunden hatte. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ oder „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Der Lyrikkenner merkt sofort, meine Unwissenheit was den württembergischen Dichter angeht, war nahezu umfassend. Dann dräute 2020 und hie und da las man, es sei unter anderem ein Hölderlinjahr. Anfang dieses Jahres fanden sich in Literaturzeitschriften und im Feuilleton umfangreiche Artikel und Hinweise zu Veranstaltungen, Tagungen und neuen Büchern zum Thema Hölderlin. Das war dann der Punkt, an dem meine Unwissenheit mich zu stören begann. Ich wollte herausfinden, ob sich das ganze Gewese um den Dichter einfach ignorieren ließe, ohne etwas zu verpassen. Der beste Weg dahin erschien mir, ein Buch über Hölderlin zu lesen. Zwei Neuerscheinungen boten sich dafür an. Rüdiger Safranskis „Hölderlin – Komm! ins Offene, Freund!“ und „Hölderlins Geister“ von Karl-Heinz Ott (ich hätte die Auswahlliste noch um Härtlings Hölderlinroman ergänzen können, aber mir war mehr nach Sachbuch und das möglichst aktuell).
Zunächst favorisierte ich den Safranski, hatten mich doch seine Monografien über Schoppenhauer, Heidegger und Nietzsche, sowie sein Buch über die Romantik nicht nur gut informiert, sondern auch gut unterhalten. Bei seinen letzten Büchern aber war das nicht mehr der Fall. Da hatte sich eine gewisse Geschwätzigkeit eingeschlichen. Eine mit dem Dünkel des altersweisen Kenners panierte Bräsigkeit, die jegliche Frische aus dem Erzählten nahm.
Zudem war mir nicht nach dem großen Rundumschlag von Zeugung bis zur Bahre, mit dem Auftreten aller, die nur irgendetwas mit dem Dichter zu tun hatten, damit jede Nuance auch zureichend ausgeleuchtet sich fände. Ich suchte nach dem Schlaglichthaften, etwas, das ein Bild in mir erzeugt, ohne mich dabei zum Experten zu machen. Ich wollte einfach nur einen Geschmack und nicht das ganze Rezept.
Also entschied ich mit für Karl-Heinz Ott. Zum Glück! Was für ein wunderbares Buch.
Ohne es zu wissen, erstand ich ein Werk, das in seiner Machart das deutsche Pendant zu den Büchern eines meiner Lieblingsautoren, des Italieners Roberto Calasso, darstellt. Das essayistische Durchwandern einer mit der betrachteten Person verbunden Thematik, ohne Rücksicht auf Chronologie, an den Stellen kurz verweilend, die dem Autor interessant erscheinen und, durch die Art, wie er darüber nachdenkt und erzählt, die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln. In „Der Traum Baudelaires“ zeigt Calasso seine ganze Meisterschaft darin. Genauso der aus Ehingen an der Donau stammende Karl-Heinz Ott, schon vielfach ausgezeichnet und zu Hause in den verschiedensten literarischen Gattungen. Sein Wissen um den Gegenstand seiner Betrachtung ist immens, man lernt neben dem Denken und Fühlen des Dichters viel über die politische und kulturellen Disposition der Zeit zwischen Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts kennen. Es begegnen einem eine Menge bekannte Persönlichkeiten (Goethe, Schiller, Hegel, Schelling, Schlegel etc.) Dabei geht es Ott nicht um die Anhäufung von Anekdoten, sondern darum festzuhalten, wie sich das ästhetische Programm Hölderlins positionierte und welche Auswirkungen dies auf ihn und seine Rezipienten hatte. Zweiteres ist für mich dann das, wo ich genau hinlese.
„Der bräunliche Hölderlin“, so das zweite von 5 Themengebieten, welches Ott umkreist. Da erfährt man dann, wie die hölderlinsche Emphase des Deutschen als Nachfahrin oder Erbin des antiken Griechenland in eine zunächst verklärte (George) und verkopfte (Heidegger), schließlich aber dumpfe und brutale Heimatbesessenheit sich verwandelt. Und es passte ja gut zusammen, der Gedanke Heideggers, neben den Griechen (den antiken wohlgemerkt) besäßen nur die Deutschen Tiefe (ihren Geist und ihre Kultur betreffend) und die Überzeugung, Angehöriger der Herrenrasse zu sein. Hölderlin, der einst mit dem Federkiel einen Mythos erschaffen wollte (in dem er die alten teilweise wiederzubeleben versuchte) findet seine Erfüllung im neugermanischen Führer- und Blutkult. Dafür kann der Tübinger nichts. Angesteckt aber hatte er so manchen Vordenker des Nationalismus deutscher Prägung, mit seiner Abkehr von der Moderne und der Verherrlichung und Idealisierung der alten, von den Göttern mitbewohnten Welt.
So ist Hölderlin heute, historisch betrachtet eher Warnung. Das ändert nichts daran, dass man von seiner Lyrik und seinen Ausflügen in die Dramaturgie, die Prosa und die Philosophie durchaus angetan sein kann, ohne gleich in Deutschtümelei zu verfallen. In einer Zeit allerdings, die sich wieder mehr und mehr dadurch auszeichnet, dass der Fortschritt abgelehnt wird und man sich wieder auf die Suche nach Mythen begibt, ist Hölderlin keiner, von den man sagen würde, er habe uns gerade heute noch viel zu sagen. Wenn es sich lohnt einen wieder hervorzuholen, dann ist es nicht Hölderlin, sondern Heine. Das passiert vermutlich aber erst wieder 2047, wenn sein 250. Geburtstag gefeiert wird. Hoffentlich ist es dann nicht schon zu spät.
Ruud Koopmans, Das verfallene Haus des Islam, C.H.Beck
Kritische Anmerkungen zum Islam werden heutzutage gerne mit
Attribut „islamophob“ versehen und, ohne dass eine wirkliche Auseinandersetzung
mit den Inhalten der Kritik stattfindet, als Hassrede diffamiert. Dabei ist
Ideologiekritik ein fundamentaler Bestandteil dessen, was gemeinhin Aufklärung
genannt wird. Keine Gesellschaft, die sich einer demokratischen Grundordnung verschrieben
hat, kann darauf verzichten, die in ihr vorhandenen Weltbilder auf die Kompatibilität
mit der eigenen Verfassung zu untersuchen. Die Erfahrung nämlich hat gezeigt,
dass Widersprüche hier zu Konflikten führen, die eine Gefahr für die Freiheit
aller darstellen, behält die ideologische Sichtweise dabei die Oberhand.
Warum gerade der Islam in dieser Hinsicht ein sehr hohes Konfliktpotential in sich trägt, beschreibt der Soziologe und Migrationsforscher Ruud Koopmans in seinem im Februar dieses Jahres erschienenen Buch „Das verfallene Haus des Islam – Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt“. In meinen Augen ist der Titel unglücklich gewählt. Er klingt etwas zu reißerisch und nach der Methode Sarrazin alles über einen Kamm scherend. Dass dem nicht so ist, merkt man schon auf den ersten Seiten. Im Gegensatz zu Sarrazin kennt Koopmans das, worüber er spricht aus eigener Anschauung, durch seine Arbeit an der Humboldt-Universität als Professor für Soziologie und Migrationsforschung, durch seine vielen Reisen in islamische Länder und wohl auch durch seine Frau, die aus der Türkei stammt. Und anders als Sarrazin stützt er seine Argumentationen nicht auf fragwürdige Statistiken und zieht daraus Schlüsse, die einer bestimmten Gruppe eine grundsätzliche Unterlegenheit attestieren.
Dennoch musste auch Koopmans sich den Vorwurf des Rassismus gefallen lassen, sowie als Argumentlieferant für AfD und das gesamte rechte Spektrum zu dienen. Das lag zum Teil weniger an seinem Buch, als an seinen Äußerungen in verschiedenen Fernsehsendungen und Talk-Shows, die eine solche Einordnung zwar nicht unbedingt rechtfertigen, aber ihnen bestimmt Vorschub leisteten. Kritik an seinen Forschungsergebnissen dagegen gab es nur dahingehend, dass seine Befragungen zum Teil nicht umfangreich genug gewesen seien. Allerdings stützt sich auch nur ein kleiner Teil seiner Argumente auf eigene Umfragen. Hauptsächlich sind seine Referenzen Statistiken, die von verschiedenen, globale Entwicklungen analysierenden Instituten erstellt wurden.
Bei der Beschäftigung mit dem Islam gilt grundsätzlich, was Koopmans in seinem Vorwort schreibt: „Jeder, der nicht zwischen Kritik an einer Religion und Rassismus unterscheiden kann, sollte dieses Buch beiseitelegen.“
Überhaupt kann bei einer kritischen Einlassung über den Islam von Rassismus nicht die Rede sein, kann ein Muslim doch entweder arabischer, afrikanischer und oder asiatischer Herkunft sein. Es gibt Muslime, die Deutsche, Franzosen, Amerikaner oder Israelis sind. Kritik an der Ideologie der evangelikalen Fundamentalisten in den USA würde niemand als Rassismus bezeichnen, nur weil diesen auch Afroamerikaner angehören, die durchaus in anderer Form Rassismus erleben.
Mich interessierte Koopmans Buch nicht deshalb, weil ich ein
Problem mit dem Islam habe und mich in meiner Ansicht bestärken wollte, sondern
weil ich Religion generell skeptisch gegenüberstehe und jede Form von
Fundamentalismus, sei er nun islamisch, christlich oder von einer politischen
Ideologie gespeist, als eine große Gefahr für Demokratie, Meinungsfreiheit und
das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrem Glauben, ihrer
Herkunft oder sexuellen Orientierung ansehe.
Koopmans widerlegt in seinem Buch Argumente, die man immer
wieder zu hören bekommt, wenn man islamistischen Fundamentalismus zur Sprache
bringt. Vor allem die Behauptung, sein Ursprung läge in der Unterdrückung durch
christliche Kolonialstaaten entkräftet er nachvollziehbar. So findet man den
ausgeprägtesten Fundamentalismus heute in Ländern, die nie oder nur kurze Zeit
unter der Herrschaft einer westlichen Macht standen. Das gleiche gilt für das
Argument, der Islamismus sei eine Folge wirtschaftlicher Ausbeutung durch die kapitalistischen
westlichen Staaten.
All diese Erklärungsversuche sind letztendlich eine
Entmündigung der betroffenen Personen, beschreiben sie die Islamisten doch als
Menschen, die nicht aus eigenem Antrieb handeln, sondern von den Verhältnissen
und den Ereignissen der Vergangenheit dazu gezwungen werden, sich zu
radikalisieren.
Koopmans sucht einen anderen Ansatz um den heutigen Zustand
des Islam und der Länder mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung zu erklären.
Und dass dieser Zustand in den meisten Fällen kein guter ist (wirtschaftlich
und/oder die Einhaltung der Menschenrechte betreffend), kann jeder erkennen,
der mit den globalen Ereignissen auf dem Laufenden ist. Der Autor führt dies
auf drei Grundprobleme zurück:
Die fehlende Trennung von Religion und Staat
Die Benachteiligung von Frauen
Die Geringschätzung von säkularem Wissen
Das ganze Buch umkreist die drei Themenkomplexe und führt
eine Vielzahl von Beispielen an, warum diese zum großen Teil Schuld sind an den
Problemen, denen sich die islamische Welt gegenübersieht, aber auch der einzelne
Muslim, wenn es zum Beispiel um die Frage der Integration in eine
nichtislamische Gesellschaft geht.
Was aber noch wichtiger ist – und das macht letztendlich den
Wert dieses Buches aus, neben der reinen Wissensvermittlung – genau an diesen
drei Punkten gälte es anzusetzen, wollte man den Islam reformieren, was ja
durchaus der Bestreben vieler Muslime ist, die aber bis heute noch eine
deutliche Minderheit darstellen (nicht umsonst lobten Cem Özdemir und Ayaan
Hirsi Ali Koopmans Buch ausdrücklich). Zu groß ist noch der Einfluss von
Islamverbänden, die vor allem von der Türkei und Saudi-Arabien unterstützt
werden. Und zu widersprüchlich auch das Verhalten derjenigen, die zwar jede
Form von Rassismus und Stigmatisierung hierzulande laut anprangern, für den Rassismus,
der Unterdrückung von Frauen, den Todesstrafen für Homosexualität oder der
Abkehr vom islamischen Glauben in Ländern wie Saudi-Arabien oder dem Iran aber
scheinbar blind sind. Es fällt ihnen einerseits leicht, Israel für seinen
Umgang mit den Palästinensern immer wieder zu kritisieren und zu Protesten und
Boykotten aufzurufen, zum Terror, den die Hamas und Fatah in den autonomen
Gebieten verbreiten allerdings hörbar schweigen. Die Appeasement-Politik der
deutschen Regierung gegenüber diesen Ländern, die gerne auch durch üppige
Waffenlieferung begleitet wird, tut ihr übriges.
Ein weiterer Grund sich mit der Argumentation Koopmans
auseinanderzusetzten besteht darin, dass die oben erwähnten drei Punkte genauso
auf den christlichen Fundamentalismus zutreffen. Er erstarkt vor allem dort, wo
er sich mit der politischen Macht verflechten kann wie derzeit in den USA. Er
ist explizit homophob und möchte der Frau den ihr gebührenden Platz unter der Führung
ihres Mannes als ihr Haupt wieder zuweisen und verurteilt säkulare Bildung, wie
zum Beispiel die Evolutionstheorie. Wie in vielen muslimischen Ländern die
Grundlage der Gesetze die Scharia bildet, möchten die christlichen
Fundamentalisten die Bibel als oberstes Gesetzbuch anerkannt sehen.
Glücklicherweise sind in der christlichen Welt diese
Bestrebung bisher noch Randerscheinungen, aber Tendenzen zu einer Rückkehr zu
diesen Ansichten sind selbst in demokratischen Ländern zu beobachten. Man
braucht nur nach Polen zu schauen, wo sich schon eine große Anzahl von Kommunen
als „schwulenfreie Zonen“ bezeichnen.
Koopmans Buch zu lesen lohnt sich vor allem deshalb, weil es
einen ungeschönten Blick auf die Auswüchse einer Ideologie wirft, deren
Ansprüche den Erfordernissen unserer modernen Zeit nicht mehr gerecht werden.
Man mag ihm in einzelnen Punkten widersprechen können, seine Bestandsaufnahme
einer Weltreligion verliert dadurch aber nicht an Gültigkeit. Außerdem erinnert
es daran, dass Werte wie Gleichberechtigung sowie religiöse und sexuelle
Selbstbestimmung nicht selbstverständlich sind und immer wieder aufs Neue gegen
unterdrückende Ideologien erkämpft und verteidigt werden müssen.
Zugegeben – es findet sich nicht viel Lyrik in der Bibliothek des Tlönfahrers. Was aber vorhanden ist, liegt mir besonders am Herzen. Sei es aus einer bewundernden Abneigung wie bei Benn; aus Gründen, die mit der eigenen Geschichte zu tun haben wie bei Garcia-Lorca; weil die zu den Lieblingsautoren zählenden eben auch Gedichte geschrieben haben und diese nicht fehlen dürfen, wie bei Borges und Sebald; oder weil ich das Glück hatte, Menschen kennenzulernen, bei denen die Einzigartigkeit ihres Blickes auf die Welt und das Leben und wie sie diesen in eine ganz eigene Sprache bannen, Verbindung eingeht mit der persönlichen Wertschätzung, die ich empfinde, diese besonderen Autorinnen zu kennen. Das trifft auf Lorraine zu, deren Gedichtband “was ein netz kann” schon vor einiger Zeit erschien und von dem auf dieser Seite zu einem anderen Zeitpunkt noch die Rede sein wird.
Neu in diesem illustren Kreis ist der Gedichtband von Jana Grolms mit dem Titel “der schlüssel liegt im Geranientopf”.
Auf dem Rücken des Heftes stehen die Zeilen:
Johannisperlchen schwingen aus / Gelassen mimt die Ruhe / ihr Zwischenspiel als wäre es / ein wieder Da
Schon ein erstes Überfliegen der Gedichte lässt ahnen, dem Dazwischen wird hier gebührender Raum gegeben. Nicht dem Dazwischen enger Lücken selbstverliebter Wortspielereien, sondern in dem, was man ganz nüchtern über das Leben zu erzählen weiß, ist man nicht erst gestern aus dem Ei geschlüpft. Unwillkürlich wird man an die Zeilen von Leonard Cohen erinnert: There is a crack in everything / that’s how the light gets in.
Die zweite Neuankunft ist von einem “alten Bekannten”, finden sich doch sämtliche von ihm auf Deutsch eschienen Bücher in meiner Bibliothek. “Der himmlische Jäger” von Roberto Calasso. Calasso ist nebenberuflich Verleger, und das schon so lange, dass er bereits Anfang der siebziger Jahre Ingeborg Bachmanns Gedichte in Italien herausbrachte (und sie kurz vor ihrem Tod noch in Rom im Krankenhaus besuchte). Hauptberuflich aber ist er Leser. Aber zum Glück nicht nur das. Er ist der seltene Glücksfall eines Menschen, der das Gelesene umzusetzen weiß in eine Prosa, die sich einer genauen Kategorisierung entzieht, die oszilliert zwischen Essay, geschichtlicher und literaturhistorischer Betrachtung, die alles zu umgreifen sucht, von den indischen Veden, über griechische Mytholgie, den Werken Tiepolos und Baudelaires, dem diplomatischen Treiben eines Taillerand bis hin zu Kafka und einem explizit kritischen Blick auf die Moderne, die er das Unsagbare Heute nennt.
“Der himmlische Jäger” nun nimmt den Übergang vom Tier zum Menschen in den Blick. Und auch den Übergang vom Gott zum Tier, denn es gab einmal eine Zeit, in der man nicht wusste, ob das, was einem über den Weg lief nun ein Tier oder doch ein Gott war.
Calasso ist einer, der es nicht duldet, dass der Mensch sich von seinen Wurzeln trennt, auch wenn diese ihn schon lange nicht mehr nähren und er blasiert allem Metaphysischen verächtlich den Rücken gekehrt hat. Zwar überspannt er dabei manchmal den Bogen, aber selbst dann ist er immer geistreich, ruft eine Unzahl von Zeugen auf und anstatt ihm zu widersprechen fragt man sich verblüfft, wie es möglich ist, dass jemand in einem einzigen Leben so viel gelesen haben kann.
Zwei Bücher, deren Titel sich offensichtlich widersprechen. Wo sie inhaltlich kollidieren und ob es auch Schnittmengen gibt, werde ich die nächsten Wochen herausfinden.
Das Eine:
Und das Andere:
In Salzborns “Kollektive Unschuld” habe ich schon hineingelesen. Er dockt bei Adorno an und auch bei Magarete und Alexander Mitscherlich. Deren Buch “Die Unfähigkeit zu trauern”, erschienen 1967, ist eine eindringliche Analyse des Umgangs der Deutschen mit ihrer Verstrickung in den Nationalsozialismus. Ich gehe davon aus, dass Salzborn von hier aus den Bogen weiter spannt ins Hier und Heute.
Von Susan Neimans Buch habe ich bisher nur das Vorwort gelesen, das sich auf Biografisches und ihr Verhältnis zu Deutschland konzentriert.
Susan Neiman ist eine wundervolle Autorin. Ihr Buch “Das Böse denken” gehört zu den schönsten und lehrreichsten Leseerfahrung, die ich auf dem Gebiet der Philosophie je hatte. Ich bin schon sehr gespannt, wie sie die Aufarbeitungs- und Erinnerungsarbeit der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg einschätzt.
Besonders aber erhoffe ich mir, durch die Unterschiedlichkeit der Ansätze von Neiman und Salzborn neue Sichtweisen kennenzulernen und aus dem Echo des Zusammenpralls der diametralen Standpunkte den einen oder anderen Ton herauszuhören, der hilfreich sein kann, die eigene Sicht der Dinge weiter dahingehend zu kalibrieren, dass man sie berechtigterweise eine objektive nennen kann.
Nichts ist, wie es scheint, Michael Butter, Suhrkamp
Über Verschwörungstheorien, oder Verschwörungsmythen, wie der Begriff mittlerweile präzisiert wurde, wird in letzter Zeit viel geredet und es gibt über dieses Phänomen zahllose Artikel und Bücher. Erst vor kurzem erschien das Buch „Fake Facts – wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ der Autorinnen Katharina Nocun und Pia Lamberty, das sich umgehend zum Spiegelbestseller mauserte, was das große Interesse an der Thematik bezeugt.
Michael Butter, Professor für amerikanische Literatur und
Kulturgeschichte an der Universität in Tübingen, veröffentliche sein Buch „Nichts
ist, wie es scheint“ schon im Jahre 2018, was ihm natürlich nichts an
Aktualität nimmt, auch wenn die Ausblühungen coronabedingter
Verschwörungsmythen darin noch keine Erwähnung finden.
Überhaupt ist Butter mehr daran interessiert, Geschichte und
Bedeutung des Begriffes „Verschwörungstheorie“ zu erläutern. Ihm liegt ihm
nichts an einer raschen Analyse des Jetztzustandes, die lediglich der
Befriedigung derjenigen dienen kann, die sich über eine solche geistige Verirrung
erhaben fühlen und dagegen immun zu wissen glauben. Viel mehr geht es ihm darum,
ein Wissensfundament zu schaffen, das als Werkzeug zur Einordnung dessen taugt,
was man heute allerorten zu beobachten glaubt.
Dabei stellt er fest: Bis vor einigen Jahrzehnten war der Glaube an Verschwörungstheorien eine Selbstverständlichkeit. Sie galten, egal ob von religiöser oder politscher Seite, als von höchster Stelle legitimiert. Das änderte sich erst nach 1945 und spätestens ab Mitte der fünfziger Jahre konnte man ein Abwandern der Verschwörungstheoretiker in Subkulturen beobachten.
Dort sind sie, so Butter, bis heute verblieben, auch wenn
man das Gefühl haben könnte, es handele sich mittlerweile wieder um eine große,
fast globale Bewegung. Was aber hat sich tatsächlich geändert?
Die Ablehnung der gesellschaftlichen Mehrheit was Verschwörungstheorien angeht besteht nach wie vor. Aber vor allem durch das Internet wurden aus verstreuten, nicht oder selten miteinander kommunizierenden Gruppen, plötzlich Gemeinschaften, die sich über Ländergrenzen hinweg über ihre Ideen und Konspirationsmodelle austauschten. YouTube-Videos lösten die nur selten gelesenen Pamphlete ab und in Chatrooms konnte man sich plötzlich mit einer Vielzahl von Gleichgesinnten austauschen. Das vermittelte den früheren Einzelgängern das Gefühl, einer großen Gemeinschaft anzugehören und erweiterte ihren Horizont, was das Ausmaß der Verschwörungen anging. Theorien wurden einander abgeglichen und verschmolzen zu großen, welterklärenden Erklärungsgebäuden in denen sich aufzuhalten für viele einen unwiderstehlichen Reiz ausübte.
Das führte zu einer zweiten Entwicklung, die heute den Eindruck erweckt, Verschwörungstheorien strebten wieder einer allgemeinen Akzeptanz entgegen. Der Verschwörungstheoretiker akzeptierte seine Rolle als Randfigur und bastelte sich aus der Menge an Widerspruch ein passendes Narrativ, welches ihn in seiner Überzeugung nur bestärkte. Derat bewehrt, traut er sich in die Öffentlichkeit, ja sucht sie geradezu und ruft seine Weltdeutung so höhrbar wie möglich hinaus in eine irregeleitete und ungläubige Welt. Die Mehrheit gegen sich zu haben ist ihm Beweis dafür, im Besitz der Wahrheit zu sein. Zumal das Internet ihm mit der von ihm gewählten Filterblase einen perfekten Rückzugspunkt bietet, die Gemeinschaft der Gleichgesinnten, in welcher er argumentativ und emotional wieder aufrüsten kann bis zum nächsten Kampf gegen die Verblendeten und Irregeführten.
Butter schürt keine Panik, noch macht er sich über „Aluhüte“ lustig. Ihm geht es in erster Linie um die wissenschaftliche Untersuchung eines gesellschaftlichen Phänomens. Dennoch macht er sehr deutlich, wo die Gefahren liegen. Wer glaubt, die Erde werde von Reptiloiden beherrscht oder die Mondlandung sei nur ein Fake, schadet damit erst einmal niemanden. Ganz anders sieht das bei Impfgegnern aus oder Reichsbürgern, die meinen sich bewaffnen zu müssen, um sich gegen die BRD-GmbH und die alliierten Besatzungsmächte wehren zu müssen. Und was die Verschwörungstheorie von der Herrschaft des Weltjudentums angerichtet hat, weiß jeder.
Was aber tun? Aus meiner eigenen Erfahrung als fundamentalistischer Christ, und damit Anhänger einer der ältesten Verschwörungstheorien überhaupt, weiß ich, dass Argumente nichts bewirken. Wie schon erwähnt, bestätigt jede Form von Widerspruch nur die Überzeugung im Recht zu sein. Erst die aus eigenem Antrieb angestellte Untersuchung der Fakten kann eine Änderung des Denkens bewirken. Leider verspüren nur die wenigsten einen solchen Impuls. Die Ambivalenz, der sich der Mensch ausgesetzt sieht, die Sehnsucht nach der großen, alles erklärenden Erzählung ist so stark, dass nur wenige, die sich eingebettet und heimisch fühlen in einer alles umfassenden Theorie die Motivation verspüren, diesen sicheren Raum zu verlassen.
Was es braucht, ist eine ausgeprägte Sozial-, Geschichts- und Medienkompetenz. Hier müsste man schon in den Schulen ansetzen. Solange aber das Ziel schulischer Bildung in reiner Wissensvermittlung besteht, nicht aber in der Verleihung der erwähnten Kompetenzen, die Lehrpläne selbst in Form von Religionsunterricht z.B. diesem sogar entgegenwirken, wird es auch immer wieder einen Nährboden für Verschwörungstheorien und -mythen geben. Nur der Mensch, der versteht, dass es einfache und allumfassende Erklärungen für gesellschaftliche und geschichtliche Vorkommnisse nicht geben kann und der gelernt hat, dass eine Meinung, nur weil sie anscheinend von vielen Menschen geteilt wird deswegen nicht automatisch richtig ist, behält die gesunde Skepsis, die notwendig ist, um sich davor zu schützen, hinter allem was passiert, nicht gleich das große Böse zu vermuten. Zu denken, hinter allem verberge sich etwas und nichts sei, wie es scheint.
Hat man als Literaturliebhaber seine medialen Filterblasen
richtig justiert, dann spülte es einen in den letzten Tagen eine Menge
Reich-Ranicki in die Timeline. Nicht zufällig, immerhin wäre der bekannteste
aller deutschen Literaturkritiker (der wahrscheinlich bis in alle Zeit der
bekannteste aller deutschen Literaturkritiker bleiben wird, weil dieses
Geschäft, so wie er es verstand und betrieben hat, mit ihm ausgestorben ist) am
02. Juni 2020 einhundert Jahre alt geworden.
Wäre es nach den Nazis gegangen, hätte er seinen dreißigsten
Geburtstag nicht mehr erlebt. Seine Biografie „Mein Leben“ zählt zu den für
unsere Gesellschaft so immens wichtigen Zeugnissen aus einer Zeit der absoluten
Verrohung und Erosion jedweden menschlichen Anstands. Gehörte man zu den
Stigmatisierten, den aus der Gemeinschaft der Menschen per Definition und
Dekret Ausgestoßenen, war Überleben eine Glückssache. Bei Marcel Reich-Ranicki
und seiner Frau Teofila aber nicht nur. Auch die Literatur hatte damit zu tun
und das ist keine auf psychologischer Kaffeesatzleserei beruhende Feststellung,
sondern eine handfeste Tatsache. Und das berührt letztlich einen Punkt, der
völlig jenseits davon steht, was man nun von M.R.R als Literaturkritiker hält.
Er kehrte dem Land und der Sprache jener, die ihn töten wollten, nicht den
Rücken, sondern hatte die Kraft und den Großmut, ihnen die Hand zu reichen.
Leicht war es nicht, denn er blieb bei all seinen Bemühungen ein Außenseiter.
Der Deutsche ist sehr nachtragend, wenn man ihm etwas antut. Nachtragender ist
er nur gegenüber jenen, denen er etwas angetan hat.
Aber M.R.R zahlte es ihnen heim. Durch seine
Unerbittlichkeit, seine Gradlinig- und Furchtlosigkeit und dem, den Teutonen so
völlig abgehenden Mangel an Respekt vor jenen, die sie als „Götter“ betrachteten.
Den Preis, den Reich-Ranicki dafür bezahlte: Einsamkeit, wie er selbst einmal
in einem Interview, nicht lange vor seinem Tod bemerkte. Und natürlich
Tötungsphantasien von Schriftstellern, die sich durch ihn bedroht oder gar
geschädigt sahen.
Hat er Schriftstellerkarrieren beschädigt? Ich glaube, er
hat einige zumindest für eine Zeit gebremst. Nicht dadurch, dass deren Bücher
weniger verkauft wurden. Aber seine apodiktischen Urteile waren trefflich dafür
geeignet, Selbstvertrauen zu zerstören und den Verrissenen in einen Verteidigungsmodus
zu versetzen, der jegliche Kreativität für mehr oder weniger lange Zeit unterbandt.
Die meisten werden sich davon erholt haben und man sieht ja heute, wo ein neuer
M.R.R. nirgendwo am Horizont zu sehen ist, wie die Talente auf- und wieder
abtauchen und nur ganz wenige es schaffen, in den obersten Regionen der
öffentlichen Wahrnehmung zu verbleiben.
Ein weiterer Preis: Man erinnert sich an ihn heute meist nur
noch wegen seiner Auftritte beim Literarischen Quartett, seinen Kontroversen
mit Gras und vor allem mit Walser. Nur wenige gedenken seiner unermüdlichen
Arbeit als Feuilletonchef bei der F.A.Z, der Arbeit als Herausgeber der
Frankfurter Anthologie, Herausgeber von Lyrikanthologien und den Kanons
deutscher Romane, Erzählungen, Lyrik und Essays. Letztere befindet sich in
meinem Besitz und wird mir bis an mein Lebensende immer wieder Freude bereiten
ob der Vielzahl von essayistischen Perlen, die sich darin befinden. Ihm selbst
war ja dieser mediale Ruhm suspekt, was sich letztlich auch darin zeigte, dass
er den Deutschen Fernsehpreis auf die ihm ganz eigene, unsensible Art und Weise
ablehnte. Dass er dies vor laufenden Kameras tat, bezeugt die Ambivalenz seines
Verhältnisses zur Öffentlichkeit. Einerseits hatte er sie immer gesucht,
andererseits musste er immer wieder erleben, wie sie ihm die so ersehnte „Einbürgerung“
verwehrte.
Persönlich ist mir die Art wie M.R.R seine Literaturkritik
betrieb mittlerweile fremd. Früher, in Zeiten des Suchens nach einem eigenen
Standpunkt, war die Lektüre seine Bücher und Artikel so etwas wie Ankerpunkte,
an denen ich mich orientieren konnte. Ein gehörige Portion Neid war auch mit im
Spiel, wollte ich mir in meinem Urteil doch einmal so sicher sein, wie er. Und
wenn du dir deiner selbst nicht sicher bist, dann liest du lieber einen Verriss
von Büchern derjenigen, denen du dich weit unterlegen fühlst, als irgendwelche
Lobeshymnen, welche dir deine Inferiorität nur bestätigen.
Heute sehe ich es naturgemäß anders, man entwickelt sich weiter
und emanzipiert sich von seinen Idolen und Souffleuren und das bockige
Verteidigen des eigenen Geschmacks als oberste Instanz für das, was gute oder
eben nicht gute Literatur ist, erscheint mir als hinderlich wenn es darum geht,
in einem Buch oder einer Erzählung sich auf die Suche nach Orten zu begeben, an
denen man sich selbst begegnet. Denn nur darum geht es in der Literatur. Es
gibt nichts sinnloseres als Kritik an einem Buch, das mich kalt lässt, dem es
auf keiner Seite gelingt, Kontakt mit mir aufzunehmen. Weil diese Kritik sich
genau an diesem Punkt festmacht und ihn nicht verlassen kann. Nicht umsonst
konnte M.R.R. manchmal nichts anders sagen als: „Das langweilt mich.“ „Das ist
blöd.“ „Das ist untalentiert“ usw. Diese Mühe kann man sich sparen. Kritik
setzt erst dann an, wenn eine Verbindung zwischen dem Kritiker und dem
betrachteten Gegenstand entsteht. M.R.R sagte einmal, Offenheit ist die
Höflichkeit des Kritikers. Ich dagegen möchte nicht höflich sein gegenüber den
Büchern, die ich lese. Ich möchte leidenschaftlich sein und das kann ich nur,
wenn mich die Lektüre jenseits der Frage, ob mir nun gefällt, was ich lese oder
ob es meinen Qualitätsmaßstäben entspricht, berührt.
Reich-Ranickis Kritiken waren immer Plädoyers für die Literatur.
Aber immer nur für das, was er unter Literatur verstand. Er war einem kategorischen
Denken verhaftet, das einfach nicht mehr in unsere heutige Zeit passt.
Anderseits hätte ich ohne M.R.R und das Literarische
Quartett nie etwas von Javier Marias und seinem Buch „Mein Herz so weiß“
gehört. Und mir würde damit einer der schönsten Leseerfahrungen meines Lebens
fehlen.
Noch einen Preis zahlen wir alle für die Ausnahmestellung,
die Marcel Reich-Ranicki in der deutschen Literaturkritik der Bundesrepublik
einnimmt. Dafür trägt er keine Schuld, sie bedingt sich durch die mediale
Aufmerksamkeit, die er durch das Literarische Quarte bekam. Niemand spricht heut
mehr von Hans Mayer, Joachim Kaiser oder Fritz J. Raddatz. Sie alle waren
leidenschaftliche Leser, Kenner der deutschen Literatur und haben wunderbare
Bücher über Schriftsteller und ihre Werke geschrieben, die zu lesen selbst
heute noch ein wirkliches Erlebnis ist. Hans Mayer hat ein Vierbändiges Werk „Deutsche
Literaturkritik“ herausgebracht, das den Kanons von Reich-Ranicki in nichts
nachsteht, ja vielleicht in der Treffsicherheit der Auswahl noch überragt.
Raddatz Analysen der deutschen Literatur sind, weil sie sich auf Nebenpfaden
bewegen und die Posterboys der Nachkriegsliteratur gerne außen vorlassen, von
einer Tiefgründigkeit, gerade auch im politischen Sinn, die Reich-Ranicki nie
erreicht hat. Joachim Kaiser dagegen ist ein Liebender, ein Feingeist bei dem
jeder Gegenstand, den er sich zur Betrachtung in die Hand nimmt, danach ein
Stück schöner und glänzender ist.
Ich glaube, diese drei Autoren haben für die deutsche
Literatur ebenso viel geleistet wie Reich-Ranicki, nur auf andere, subtilere
und teilweise auch verkopftere Art.
Wo Marcel Reich-Ranicki sie aber überstrahlt, ist in seiner
einzigartigen Position als Kämpfer für eine Sprache, in der die Tötungsbefehle
gegen seinesgleichen gebrüllt wurden und seinen unerschütterlichen Glauben
daran, dass jenes Gebrüll das Schöne dieser Sprache nur verdeckt, aber nicht
zerstört hatte.
Keine Geschichte wird ohne Grund erzählt. Auch wenn wir uns in stillen Gedanken selbst Zeugnis ablegen, steckt immer eine Absicht dahinter. Diese ist untrennbar mit der Erzählung verbunden, mag sie sich auch noch so gut verstecken oder gar absichtlich verschleiert werden. Erzählen heißt immer manipulieren und wer einer Geschichte zuhört, ist an ihrem Ende nicht mehr der Mensch, der er an ihrem Anfang gewesen war. Wehren kann man sich dagegen nur, indem man eine andere Geschichte dagegensetzt, besser gesagt, eine andere Version der Geschichte, vielleicht sogar mehrere. Man steht dem Gehörten solange machtlos gegenüber, bis man selbst das Wort ergreift und die Welt aufs Neue erschafft.
Unter diesem Gesichtspunkt bekommt der Titel Vom Hörensagen eine doppelte Bedeutung. Zunächst die allgemein übliche, einen Umstand nicht aus eigener Anschauung, sondern nur durch die Erzählungen anderer zu kennen. Der Erzähler in Jan Weidners Geschichte hat viel gehört – Gerede von Nachbarn und anderen Dorfbewohnern – über die Frau, mit der er sich in einem Raum befindet, die er von Kindheit an kennt, von der aber dennoch nicht viel weiß und die ihm nun, während sie gemeinsam auf ein bestimmtes Ereignis warten, ein Geständnis ablegen will.
Man kann Vom Hörensagen aber auch so verstehen, dass auf das Hören das Sagen folgt, weil nur durch das eigene Sagen des Gehörten, durch das Neuerzählen, die Dinge für einen selbst an Klarheit gewinnen können, nur so ein Begreifen möglich ist. Denn alles ließe sich begreifen, so der Erzähler, und in einen Satz fassen, wenn er nur gut genug ist.
Wie aber sieht er aus, der Satz, der gut genug ist? Das Buch gibt die Antwort, indem es sie nicht gibt, sondern das Bemühen des Erzählers schildert, diesen zu finden. Es ist nicht nur die Geschichte zweier Menschen, deren Fremdartigkeit sie zwar verbindet, letztendlich aber keine wirkliche Berührung zulässt, eine Geschichte von Anziehung und Abstoßung, von Zurückweisung und Schuld, vom grausamen Schweigen und ebenso grausamen Reden, sondern auch eine über die schmerzhafte Suche nach Wahrhaftigkeit, die, soviel wird klar, nichts mit Wahrheit zu tun hat, sondern mit dem Erkennen der eigenen Rolle, die man spielt – sei es als Hörender oder Sagender.
Was aus dem Buch, neben seiner klugen Komposition, seiner eindringlichen Sprache und einer Geschichte, die Seite um Seite mehr gefangen nimmt und letztendlich in Mark und Bein fährt, etwas Besonders macht, ist das angehängte Begleitwort einer Leserin, in der Anja Goeft-Sozza der Geschichte und ihrem Erzähler mit sprachlichem Feingefühl und intellektueller Sensibilität nahe zu kommen sucht. Dieses Nachwort verstärkt das Gefühl, das man nach der Lektüre von „Vom Hörensagen“ ohnehin hatte, indem sie ein passendes Wort dafür findet: Erschütterung. Eine Erschütterung, die sich nicht nur dem tragischen Handlungsverlauf schuldet. Man ist außerdem Zeuge geworden, was es bedeutet um Worte zu ringen, damit sie dem gerecht werden, was erzählt werden soll, erzählt werden muss.
Jan Weidner, Vom Hörensagen, zuckerstudio waldbrunn, ISBN 978-3-7357-5891-0