18/VIII/14

Heute Morgen fand ich im Postkasten einen Brief von meiner Klassenlehrerin aus der Grundschule.

 

„Hallo T.

wenn du es einrichten kannst, stirb nicht allzu früh. Das Nichts ist ein kühler Ort. Der einzige Trost sind Erinnerungen, die man sich aber nicht aussuchen kann. Wie gerne dächte in an meine Töchter oder meine Enkel und Enkelinnen. Aber statt ihrer fröhlichen Blicke sehe ich nur dein einfältiges Jungengesicht mit diesem schmierigen Seitenscheitel. Ich nehme an, deine bigotte Mutter hat ihn dir jeden Morgen gekämmt. Sie hat auf einen billigen Hornkamm gespuckt und fuhr dir damit  durchs ungewaschene Haar. Du hast gequiekt wie ein kleines Ferkelchen, weil es so geziept hat. Stimmt’s?

Ich war gerne Lehrerin. Aber nur solange, bis du in meine Klasse kamst. Von da an war es eine einzige Quälerei. Wenn ich in deine großen, erwartungsfrohen Augen schaute, dann war mir der Tag vergällt. In diesen Kopf, so dachte ich mir, passt kein Einmaleins, kein Funken Grammatik. An so etwas wie Geographie, Biologie, Physik und Chemie mochte ich überhaupt nicht denken. Und ich hatte Recht. Du hast versagt, von Anfang an. Es war nur dem gutmenschlichen Enthusiasmus deiner Mutter zu verdanken, dass es ganze zwei Jahre dauerte, bis man dich wieder von der Schule holte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich war. Ich hatte ja nur noch drei Jahre bis zur Rente, aber deine Anwesenheit ließ mich tagtäglich daran zweifeln, ob ich meinen Ruhestand überhaupt erleben würde.

Krebs ist eine Sau, das sage ich dir. Ihn interessiert weder dein Alter, noch das, was du im Leben noch vorhast. Von all dem Guten, das du getan hast, ganz zu schweigen. Er mag dich einfach nicht und will dich aus dem Weg räumen. Ein ausgesprochen hartherziges Gewächs, findest Du nicht auch?

Ich bin ziemlich sauer auf dich, weil du mir all die schönen Erinnerungen verstellst. Geh doch bitte aus dem Weg. Könntest du mir diesen Gefallen tun? Stell dir einfach vor, dein Leben nach dem Tod bestünde nur aus Erinnerung an mich. Wie gefiele dir das? Also, gehe in irgendeine Kirche, zünde eine Kerze für mich an oder sprich mit einem Priester. Pilgere den Jakobspfad oder besteige den Himalaya. Webe Gebetsteppiche oder unterwirf dich der Scharia. Nur mach etwas, damit du endlich aus meinem Kopf verschwindest.”

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