Welches Geräusch machen Weltbilder, wenn sie zusammenbrechen? (VIII-IX)

VIII

Vorsicht! Ihr Nihilismus kann Spuren von Weltuntergangssehnsüchten enthalten.

 

Der Apotheker

 

Der Apotheker war ein kleiner, wohlbeleibter Mann. Als ich ihn kennenlernte war er schon weit in die Sechzig. Früher, erzählte die Mutter, sei er ein stattlicher und schlanker Mann gewesen, aber es gäbe keine Bilder mehr, die dies bezeugen könnten. Die ihn in Uniform zeigten habe er nach dem Krieg verbrannt, die anderen, nachdem seine erste Frau gestorben war. Gut könne sie sich noch erinnern, wie er die Fotografien bündelweise in den Ofen warf. Verwundert hätten sie und ihre Schwester dabei zugesehen, sich aber nicht getraut nach dem Grund für dieses Brandopfer zu fragen. Am nächsten Tag erhielten sie die Antwort, als der Vater ihnen ihre neue Mutter vorstellte.

Über die Kindheit des Apothekers weiß ich nicht viel, stelle mir aber vor, dass er den Ansprüchen seines Vaters nie gerecht werden konnte. Er setzt alles daran, sich den Mief der fränkischen Provinz von den Kleidern zu schütteln. Beim Salbenrühren träumt er von Frauen und einer Wildheit, die ihn über alle anderen erhebt. Es verschlägt ihn nach Frankfurt und er heiratet die Tochter eines Gärtners. Er umgibt sich nur mit Menschen, denen er sich überlegen fühlt. Mitte der dreißiger Jahre läuft er den Bibelforschern in die Arme, ist aber noch nicht bereit, die Welt preis zu geben. Zwar gefällt ihm die apokalyptische Arroganz der Wachtturmjünger, aber das völkische Aufbrodeln um ihn herum nimmt ihn mehr und mehr gefangen. Er ohrfeigt zunächst die Franzosen, dann die Griechen. Die Russen aber waschen ihm gehörig den Kopf und nur mit viel Glück setzt er noch rechtzeitig über die Elbe. Als die Amerikaner ihn entlassen, kann er vor Wut kaum noch gehen. Seine Orden wirft er in den Main und wünscht die Welt zum Teufel. Da kommen die Bibelforscher, die sich nun Zeugen Jehovas nennen, gerade recht. Sie stellen das Gefäß, in das sein Zorn langsam abfließen kann. Der große Weltenbrand steht unmittelbar bevor und Männern wie ihm ist es bestimmt, die Schafe mit straffer Hand und ernster Stimme auf diesen Feuersturm vorzubereiten. Der Soldat ist nun ein Hirte. Und auch beruflich geht er neue Wege. Aus dem Apotheker wird ein Beamter des statistischen Bundesamtes, der Statistiken erstellt, so unfehlbar wie das in der Bibel niedergelegte Gotteswort.

Die Gärtnerstochter stirbt an Krebs und er sieht sich plötzlich mit zwei halbwüchsigen Mädchen alleine. Der Ritter der Apokalypse muss vom Pferd steigen. Nicht lange allerdings, findet sich doch schnell Ersatz in Form einer halb verdorrten Jungfer, die es von Goebbels Propagandaministerium irgendwie in das neu entstandene Landwirtschaftsministerium geschafft hatte. Ein Krautgewächs von der Mecklenburger Seenplatte, die in der Trauer um eine unglückliche Liebschaft mit einem französischen Studenten lebt, der Sekte genauso schnell hörig wurde, wie einst ihrem ehemaligen Chef und sich einbildet, durch die Heirat mit einem Vater würde sie automatisch zu einer Mutter.

Dass die ältere Tochter das Haus schnell verlässt und einen windigen Zeugen aus dem Schwabenland heiratet, nimmt der Apotheker hin. Für die jüngere hat er aber größere Pläne. Die steckt zwar zwischendurch den Kopf in den Ofen (ein Nachbar findet sie noch rechtzeitig) aber kräftige Schläge treiben ihr diese dummen Ideen aus. Und tatsächlich findet sie einen jungen Kadetten, der den Ansprüchen des Vaters genügt.

Enkel regnen in sein Leben. Und auch wenn der Schwiegersohn ihn schon längst in der Sektenhierarchie überholt hat, kann er von seinen patriarchalischen Fantasien nicht lassen und sieht sich als Abraham der Familie. So oft wie möglich zwingt er die Nachkommenschaft um sich. Alle sträuben sich dagegen außer mir, was hauptsächlich an dem großelterlichen Wohnzimmer liegt, dessen eine Seitenwand mit Büchern tapeziert ist. Vornehmlich Bildbände, in denen ich stundenlang gedankenverloren blättere. Auch wenn ich täglich mit der Stiefgroßmutter in die Innenstadt gehen muss, um mir an einem der öffentlichen Plätze einen Wachtturm vor die Brust zu halten, der Apotheker mich jeden Morgen zwingt ihm Bibelverse nachzusprechen und ich Spielzeugautos nur unter Androhung der sofortigen Konfiszierung, sollten sie zu laute Fahrgeräusche machen, über den Esstisch rasen lassen darf. Die Bücher haben es mir angetan. Sie sind jedes Opfer wert. Während ich in ihnen blättere, sitzt der Apotheker an seinem Schreibtisch und sortiert Briefmarken in wuchtige Alben, mit einer solchen Sorgfalt, als gäbe es für sie nur diesen einen Platz auf der Welt. Die Mecklenburger Seenplatte zieht sich mit einer Pinzette Splitter aus den Fingern und erzählt, die kämen von einem Autounfall, den sie vor Jahren hatte. Abends macht sie Bratkartoffeln und dann gehen wir zum Gottesdienst. Oder der Apotheker stellt mir biblische Fragen, die er auf kleine Karteikarten geschrieben hat, mit der Antwort auf der Rückseite. Einen Fernseher kaufen die beiden sich erst, als ich schon erwachsen bin.

Das Ende der Welt bleibt aus und dem Apotheker versagen zunächst die Beine, dann die Prostata. Dem Ritter ist das Pferd unterm Hintern weggestorben und er muss mit ansehen, wie grünes Jungvolk die Führung der Herde übernimmt. Seinen massigen Körper in einen Rollstuhl gepfercht lässt er sich zwei Mal die Woche in die Gebetsstätte schieben und setzt dabei das mürrischste Gesicht auf, dessen er habhaft werden kann. Er gibt niemanden die Hand, außer den Hirten der Gemeinde, zu denen er zwar immer noch zählt, die auf seine Stimme aber schon lange nicht mehr hören.

 

Die letzten Worte des Apothekers waren an mich gerichtet. Beim Rasieren hatte ihn eines Morgens ein Schlaganfall heimgesucht. Nun lag er in einem Krankenhausbett und die ganze Familie war anwesend.

„Wie soll ich mich verabschieden?“, fragte er, aber niemand hörte ihm wirklich zu. Seine Frau und meine Mutter waren damit beschäftigt, Socken und Unterwäsche in die Schränke zu räumen. Vater sagte etwas Belangloses (Das wird schon wieder) und mein Bruder und ich fühlten uns einfach nur unwohl. Die Ironie der Situation wurde mir erst viel später bewusst. Der Patriarch hatte sich ein letztes Mal aufgebäumt und wollte die Seinen um sich scharen, um ein gewichtiges Abschiedswort zu sprechen. Die aber kümmerten sich um Wäsche oder sahen auf die Uhr.

Als schließlich das Zeichen zum Aufbruch gegeben wurde, gab ich dem Großvater einen Kuss auf die Stirn.

„Dein Plaque stinkt“, sagte er.

Ich sah ihn verständnislos an und er wiederholte: „Dein Plaque stinkt.“

Am nächsten Tag starb er. Der Apotheker war gegangen und der letzte Eindruck, den das Leben ihm geschenkt hatte, war der Mundgeruch seines Enkels.

 

 

 

IX

 

Gehen Sie direkt ins Gefängnis, gehen Sie nicht über Los. Ziehen Sie nicht 2000 € ein.

 

Jetzt, wo alles vorbei ist und mich die Stille all derer umgibt, von denen ich erzähle, vermisse ich ihre Stimmen, denn sie bildeten die notwendige Korrektur, rückten vielleicht dieses oder jenes zurecht und ließen mich eventuell als Lügner dastehen oder zumindest als ein Irrender. So aber verweigern sie mir die Scham, mich als unwahrhaftig erwiesen zu haben.

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