Olaf und der Süden

Olaf will in den Süden

 

Sich aus dem Staub machen, das wär’s. Auf und davon, Richtung Süden.

Die nackten Füße auf sonnenverbrannte Erde setzen, heißen Sand durch die Finger rieseln lassen und auf abenteuerliche Weise ganz und gar Herr seiner selbst sein. Wie der Marlboromann.

Aber noch verbringt er den größten Teil der Woche in einem Supermarkt. Füllt Regale auf, sitzt an der Kasse, wechselt die Behälter des Leergutannahmeapparates. Seit acht Jahren nun schon. Als Kollegen hat er nur dicke, geschiedene Frauen über vierzig. Und als Chef einen Supermarktleiter. Ein kleiner Mann, naturgemäß. Alle Supermarktleiter sind kleine Männer, die es anderswo zu nichts gebracht haben. Supermarktleiter ist der Versagerjob schlechthin. Dafür muss man nichts können. Man muss nur bereit sein, 80 Stunden in der Woche zu arbeiten. Ansonsten kann man nach Belieben ein Arschloch sein und seine Untergebenen anmaulen wo sie gehen und stehen. Die Kontrolleure von der Firmenzentrale, die so von Zeit zu Zeit auftauchen, fragen nicht, ob der Supermarktleiter ein Arschloch ist. Das setzen die voraus. Die würden sogar Orks einstellen. Hauptsache der Markt ist voll und sauber.

 

Ein Supermarkt ist wie eine Futterrinne in einem Schweinestall, denkt er. Die Menschen werden hierher getrieben durch Instinkt, Faulheit und Gier. Dabei würde niemand in einen Supermarkt gehen, wenn er nicht müsste. Er kann sich keinen unfreundlicheren Ort vorstellen. Nirgends sonst werden lebensnotwendige Dinge so lieblos angeboten.

Seit einiger Zeit trifft er sich mit dem neuen Lehrmädchen (also sind nicht alle Kollegen über vierzig) und hat das Gefühl auf sie aufpassen zu müssen. Aber der Süden ruft.

Manchmal verkaufen sie Billigtickets nach Mallorca oder Thessaloniki. Dann sitzt er an der Kasse, zieht die Tickets über den Barcodeleser und fühlt sich wie ein Grenzbeamter, der Leute ausreisen lässt, während er selber dableiben muss.

Was er will, ist in den Sonnenuntergang reiten. Aber er hat noch nicht mal einen Sonnenuntergang. In der Siedlung, in der er wohnt, gibt es so was nicht. Da gibt es nur Lichtstunden, wenn die Sonne über den Wohntürmen steht.

Einmal versuchte er es mit zwei Wochen Türkei. All-Inclusive. Das war alles furchtbar gut, nette Leute überall und er traf sogar eine, die ihm noch Wochen später E-Mails schrieb. Aber im Grunde war das nur Urlaub wie RTL II gucken. Und hatte mit seinem Süden so gar nichts zu tun.

 

Eines Abends erzählt er dem neuen Lehrmädchen von seinem Süden. Sie hört zu und fragt ihn dann, ob er sie mitnehmen würde.

Da muss er überlegen. Schließlich ist sein Süden eigentlich sehr klein. In Wirklichkeit ist es so ein kleiner Süden, dass er gerade mal selber hineinpasst. Und er sagt, mal sehen.

Am nächsten Morgen wacht er auf und denkt sich:

Sich aus dem Staub machen, das wär’s.

 

 

Olaf ist im Süden

 

Mehr Süden geht gar nicht. Die nächste Stadt zehn Autostunden weg, eine Reihe Viertausender, die den Horizont versperren; die Waden zerschnitten von Weidengras und Disteln und ein Wind, der die Hitze aus den Sonnenstrahlen weht. Man muss schon einen guten Grund haben, soweit in den Süden zu gehen. Einfache Abenteuerlust reicht da als Erklärung nicht mehr aus. An einen solchen Ort treibt einen nur der pure Lebensüberdruss. Der pure Lebens- und Menschenüberdruss. Der lässt einen irgendwann alles Geld zusammenkratzen, das man nur irgendwie auftreiben kann; lässt einen schnell ein paar Sachen zusammenpacken und an den Flughafen fahren; lässt einen ein Ticket kaufen und in einen Flieger steigen, der einen auf ein paar Umwegen direkt in eine Hauptstadt bringt; lässt einen dort einen Bus nehmen, der ins Landesinnere fährt, weit in die Berge hinein, bis man schließlich in einem Ort landet, dessen Name wie eine Droge klingt. So wie die Namen der Berge, von denen man sich einen heraussucht, auf dessen Gipfel man etwas vermutet, von dem man überhaupt keine Ahnung hat, was es sein könnte. Nur, dass es besser ist, als alles, was man zuvor erlebt hat.

Man fährt ein Stück mit jemanden im Jeep, dann hinten auf einem alten Pickup, den Rest schließlich zu Fuß. Dabei hat man ein Zelt, Proviant und eine Karte, die zwar nicht ungenau, was die Wegbeschreibungen betrifft, allerdings sehr verharmlosend ist. Die Höhe treibt einem Nägel in den Schädel, aber man redet sich ein, es zu genießen. Die Abwesenheit von Menschen entschädigt für alles. Die Abwesenheit von der Arbeit, von den Kollegen, von der Familie. Alls abwesend und somit erträglich. Man kann sich sogar gönnen, das ein oder andere kurzzeitig zu vermissen, während die Höhenluft die Lungen aufbläht, die Sonne die Augen verbrennt und die Haut im Schritt vom Schweiß bis aufs Fleisch verätzt wird.

 

Irgendwann ist er auf dem Gipfel und das war’s dann. Die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit dieses Augenblicks wird den Rest seines Lebens überschatten. Alles, was er jetzt noch erleben mag, muss sich damit messen und dabei zwangsläufig unterliegen. Er wird überhaupt keinen Versuch mehr machen, etwas auch nur annähernd so großartiges zu erleben. Er wird wieder nach Hause zurückkehren, wieder in seinen Supermarkt gehen, zu den Regalen, den Tiefkühltruhen, den Kassen, dem Lehrgutannahmeapparat und der neuen Halbtagskraft an der Wursttheke, mit der er angefangen hat zu schlafen und auch sie zu mögen. Obwohl sie einen unansehnlichen Schorf auf der Kopfhaut hat, der vor allem oberhalb der Ohren gut zu sehen ist. Wahrscheinlich wird er sie heiraten, Kinder in die Welt setzen, Enkel bekommen und wenn er stirbt, so in den letzten kurzen Momenten vor dem Tod, wird er sich daran erinnern, wie er einst auf diesem Gipfel stand, wie er diesen einen Augenblick der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit erlebte und denken, dass sein Leben alles in allem doch eine recht runde Sache gewesen ist.

 

 

Olaf (noch ganz fern vom Süden) füllt einen Fragebogen aus

 

Einige Wochen nachdem Olaf seine Lehre beendet und sich entschieden hatte, weiter im Supermarkt zu arbeiten, fand er bei seinen Großeltern ein altes F.A.Z. Magazin. Auf der letzten Seite war ein Fragebogen abgedruckt, ausgefüllt von einem Schauspieler, den Olaf nicht kannte. Manche Aussagen fand Olaf lächerlich. Er nahm sich vor, den Fragebogen ebenfalls zu beantworten. Immerhin waren das alles Fragen, die ihn noch niemand gestellt hatte. Nicht einmal er sich selbst. Also nahm er das Heft mit nach Hause und nachdem er sich Nudeln mit Ketchup gekocht und diese vor dem Fernseher gegessen hatte, holte er sich einen Schreibblock und legte los.

 

Was ist für Sie das größte Unglück?

Schmerz. Und Wochenenddienst im Getränkemarkt.

 

Wo möchten Sie leben?

Hier in der Dammstraße ist es eng und schmutzig. Drüben im Baumviertel ist es schön, aber die Mieten sind sehr teuer. Der Birkenweg ist am schönsten, denn direkt dahinter ist die Stadt zu Ende und man hat im Sommer einen schönen Blick auf die Maisfelder.

 

Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück?

Da ich den Ausdruck „vollkommen“ bisher nur in Begleitung des Wortes „bescheuert“ gehört habe, kann ich die Frage nicht wirklich beantworten. Aber Glück ist für mich, wenn all das fehlt, was mir auf die Nerven geht. Glück wäre aber auch, abends ins Bett zu gehen und sich auf den nächsten Tag zu freuen.

 

Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten?

Es hat sich bei mir noch nie jemand entschuldigt.

 

Ihre liebsten Romanhelden?

Winnetou. Den habe ich aber nicht gelesen, sondern im Fernsehen geschaut. Von Harry Potter dagegen habe ich nur die ersten beiden Bücher gelesen, aber keine der Filme angeschaut. In der Schule haben wir ein Buch gelesen von einem Mädchen, das anfängt zu trinken, weil ihre Eltern Alkoholiker sind. Das war nett beschrieben und ich habe mich ein bisschen in sie verliebt. Ich weiß gar nicht, ob das ein Roman war, aber wenn ja, dann ist sie mein Lieblingsromanheld. Wie sie hieß, habe ich allerdings vergessen.

 

Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte?

In Geschichte hatte ich eine Fünf. Weil ich mir keine Jahreszahlen merken konnte. Außerdem war unser Geschichtslehrer ein kleiner Mann von der Art, wie sie mir später noch viel zu oft über den Weg laufen gelaufen sind und er hat alles getan, um uns den Spaß an dem Unterricht zu verderben. Bestimmt gibt es irgendwo einen Geschichtslehrer, der das besser macht und das wäre dann meine Lieblingsgestalt was Geschichte angeht.

 

Ihre Lieblingsheldinnen in der Wirklichkeit?

Meine Schwester. Die hat sich getraut, mit meinem Vater mitzugehen, als die Eltern sich scheiden ließen. Mir war angst und bange bei dem Gedanken, Mutter könnte böse sein, wenn ich sie auch verließe. Sie konnte immer so aufbrausend sein und ich stellte mir vor, wie sie meine gepackten Koffer aus dem Fenster schmiss und dabei üble Verwünschungen hinterherrief. Ich habe zwar noch nie an Hokus-Pokus geglaubt, aber bei meiner Mutter wäre ich mir nie wirklich sicher gewesen und hätte alles Schlechte, was mir eventuell passiert wäre, auf ihren Fluch geschoben. So weiß ich heute, dass alles Schlechte, was mir widerfahren ist, nicht auf einem Fluch beruht, sondern auf der Tatsache, dass ich bei ihr geblieben bin.

 

Ihre Lieblingsheldinnen in der Dichtung?

Ich nehme nochmal das Mädchen von oben. Die mit dem Alkoholproblem. Vielleicht war es ja eine Dichtung, die wir damals gelesen haben.

 

Ihre Lieblingsmaler?

Der, der Garfield malt.

 

Ihr Lieblingskomponist?

Früher war es Howard Carpendale und Abba. Heute eher Michael Jackson und manches von den Beatles.

 

Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten?

Wenn er mich in Ruhe lässt. Begriffsstutzig sollte er auch nicht sein.

 

Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten?

Gutes Aussehen ist zwar nicht wirklich eine Eigenschaft, schätzen tue ich es aber trotzdem. Ich mag es, wenn Frauen lächeln. Eine Frau sollte Lächeln können, auch wenn ihr nicht danach ist. Allgemein aber schätzte ich an allen Frauen außer meiner Mutter, dass sie nicht meine Mutter sind.

 

Ihre Lieblingstugend?

Ein langes Wochenende vor mir zu haben.

 

Ihre Lieblingsbeschäftigung?

Ich würde gerne reisen. In den Süden. Einmal war ich mit meiner Mutter in Kroatien. Aber das war der Horror. Vor allem das Essen. Und meine Mutter, wegen dem Essen.

 

Wer oder was hätten Sie sein mögen?

Wer oder was hätte ich denn sonst sein können? Natürlich wäre ich gerne reich und berühmt, aber ich kenne niemanden, der reich und berühmt ist, der ich auch sein wollte. Da bliebe von mir ja nichts mehr über.

 

Ihr Hauptcharakterzug?

Pünktlich, ehrlich, meistens bin ich auch fleißig, aber nicht immer. Und ich habe noch niemanden laut ein Arschloch genannt. Außer meine Schwester, aber unter Geschwistern darf man das.

 

Was schätzen Sie bei ihren Freunden am meisten?

Dass wir ab und zu zusammen feiern gehen.

 

Ihr größter Fehler?

Eine Freundin sagte einmal, ich sei zu nett, aber das kann ja eigentlich kein Fehler sein. Dennoch habe ich danach versucht, nicht mehr so nett zu sein und sogar die ein oder andere Kollegin angeblafft, was aber weder ihr noch mir guttat. Mein größter Fehler war also, dass ich damals auf diese Freundin gehört habe.

 

Ihr Traum vom Glück?

Das hatten wir doch schon.

 

Was wäre für Sie das größte Unglück?

Das hatten wir auch schon.

 

Ihre Lieblingsfarbe?

Blau. Aber nur bei Fischen. Es gibt kein schöneres Blau, als das bei Fischen.

 

Ihre Lieblingsblume?

Rosen

 

Ihr Lieblingsvogel?

Der Strauß. Weil ich mir als Kind immer gewünscht habe, einmal ein Straußenspiegelei zu essen.

 

Ihr Lieblingsschriftsteller?

Ich habe wirklich noch nie gerne gelesen. Wenn Comics auch zählen, dann der, der Tim & Struppi gemacht hat. Und Asterix. Und natürlich Garfield.

 

Ihr Lieblingslyriker?

Otto

 

Ihre Helden in der Wirklichkeit?

Meine Mutter sagte immer zu mir: „Du bist ein Held“, wenn ich etwas besonders Dämliches gemacht habe. Es wird viele Menschen geben, die sich dämlich anstellen, die kann ich aber nicht alle kennen.

 

Ihre Heldinnen in der Geschichte?

Auch Frauen machen dämliche Sachen. Manchmal sogar sehr dämliche Sachen.

 

Ihre Lieblingsnamen?

Zorro und Luke Skywalker

 

Was verabscheuen Sie am meisten?

Angst

 

Welche geschichtliche Gestalt verachten Sie am meisten?

Das ist so eine Frage, wenn man da nicht Hitler sagt, meinen alle anderen, man wäre Nazi. Also Hitler.

 

Welche militärischen Leistungen bewundern Sie am meisten?

Den kalten Krieg. Den haben wir nämlich endlich mal gewonnen.

 

Welche Reform bewundern Sie am meisten?

Laktosefreie Milch. Und den Barcode-Leser.

 

Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen?

Ich bekomme selten etwas, aber am liebsten sind mir Gutscheine.

 

Wie möchten Sie sterben?

Jetzt jedenfalls noch nicht.

 

Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?

Gelangweilt. Und mir tut die Hand weh vom Schreiben.

 

Ihr Motto?

Der Kunde ist König.