Fundstücke I

Die Natur

Es ist Herbst und das Wetter rückt wieder in den Mittelpunkt. Im Sommer redet keiner über das Wetter. In dieser Zeit geht es nur darum, ob und wie man sich ihm aussetzt. Im Herbst dagegen ist das Wetter etwas, das man aus sicherem Abstand, gerne Drinnen, bewaffnet mit einem heißen oder alkoholischen Getränk, beobachtet. Der Herbst ist keine Jahreszeit für Menschen, sondern eine für die Natur, denn in diesen immer dunkler werdenden, feuchten und kalten Wochen, zelebriert sie ihre größten Stärken: das Welken und Vergehen.

Überhaupt, die Natur. Warum wird oft so ein Aufhebens um sie gemacht, wenn sie doch im Grunde nur eines will: unseren Tod?

Als man den jungen Baudelaire bat, einige Verse über die Natur für einen Gedichtband beizusteuern, schrieb er an den Herausgeber:

Worüber soll ich schreiben? Über das Gehölz und die großen Eichen, das Grün und die Insekten – und über die Sonne wahrscheinlich?…Sie wissen doch, dass ich unfähig bin mich von Gewächsen rühren zu lassen, und dass meine Seele unempfänglich ist für diese sonderbare neue Religion, die, wie mir scheint, für alle geistigen Menschen, etwas Schockierendes hat…Ich war sogar immer der Meinung, dass in der blühenden und der verjüngten Natur etwas Schamloses und Betrübliches steckt.

Alles, was die Natur im Frühling errichtet und aufleben lässt, gibt sie im Herbst wieder der Vernichtung und Verrottung preis, in schönen Farben zwar, aber doch mit morbider Herzenslust.

Wer es auch nicht mit der Natur hatte und dies noch viel bissiger als der französische Dichter zum Ausdruck brachte war Gottfried Benn. Er schrieb an seinen Freund Oelze:

Herr Oelze, wieder ging mir der große Humbug der Natur auf. Schnee, auch wenn er nicht taut, gibt kaum sprachliche u. emotionelle Motive, seine zweifellose Monotonie kann man gedanklich vollkommen von der Wohnung aus erledigen. Die Natur ist leer, öde; nur Spießer sehn was in sie hinein, arme Schlucker, die sich dauernd ergehen müssen […] Fliehn Sie vor der Natur; sie vermasselt die Gedanken u. verdirbt notorisch den Stil! Natura – ein femininum, natürlich! Immer auf Abzapfung von Samen bedacht, auf Bebeischläferung u. Ermüdung des Mannes. Die Natur ist sie überhaupt natürlich?

Pralle Misogynie vom Putlitzer Poeten. Aber Bebeischläferung ist zugegeben ein schönes Wort. Schöner als das durch die Dichtung zigfach vergewaltigte Natur, in das alles hingeschrieben und herausgelesen wurde und wird, was irgend mit Sehnsucht befrachtet ist. Mit hohem Herzen, naturgemäß.

(Zitate aus Der Traum Baudelaires von Roberto Calasso)

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Willkommen in der Endlichkeit

Eugen Rosenstock-Huessay überschrieb den vierten Teil seines Werkes Die Sprache des Menschengeschlechts mit den Worten: Wenn eine Ewigkeit verstummt. Erinnerungen eines Ent-Ewigten.

Weiter komme ich beim Lesen dieses Eintrags vom 03. November 2012 in Sloterdijks Notizen nicht, weil der Begriff „Ent-Ewigter“ sich sofort mit Selbstbezügen füllt und mir gewahr wird, das er ebenso auf mich zutrifft – natürlich in anderer Weise, als Rosenstock-Huessay ihn gebraucht (ihm gings um die philosophischen und religiösen Versuche von Menschen, sich aus der Zeit zu heben und ihrem Scheitern). Ich glaubte mich tatsächlich für lange Zeit ewig. Das war das Versprechen der Religion, vorausgesetzt man hielt sich an das von Gott inspirierte und seinen Auserwählten interpretierte Wort. Sich von der Endlichkeit ausgenommen zu wissen ist ein durchaus attraktives Gefühl. In ihm liegt Trost und Hoffnung. Diese Wärme verhindert, dass man den Begriff Ewigkeit gedanklich weiter durchdringt. Täte man es, man stieße unweigerlich irgendwann auf seine Unmöglichkeit und würde sich seiner utopischen Natur bewusst. Geschickt manipulierte Emotionen aber verhindern das, so ist die Ewigkeit eine reale Option und der Tod nicht unausweichlich, sondern Strafe. Vor nichts hatte ich mehr Angst, als vor dem Verlust meines ewigen Lebensrechtes durch göttliche Aberkennung.

Dann kam der Tag (es war buchstäblich ein Tag), an dem ich die Irrigkeit meiner Ewigkeitsüberzeugung erkannte, diese Erkenntnis mich sozusagen überflutete und mich für eine lange Zeit immer wieder in eine Schockstarre versetzte. Das schlimmste, das ich mir über die längste Zeit meines Lebens vorstellen konnte (die ewige Nichtexistenz) war genau das, was mich erwartete. Ich war ent-ewigt. Kein schönes Gefühl.

Heute habe ich mich an diesen Gedanken insoweit gewöhnt, als es uns Menschen überhaupt möglich ist, sich daran zu gewöhnen. Zwar kommt es immer noch vor, dass mich das Wissen über meine Endlichkeit wie aus dem Nichts überfällt und der Schrecken mich für einige Sekunden wie mit Eisenzangen umklammert hält, aber ich habe mittlerweile das Verdrängen so gut verinnerlicht, dass ich mich nach diesen kurzen Augenblicken wieder dem Alltäglichen widmen kann, so als wäre ich gar nicht ent-ewigt. Als ginge es irgendwie immer weiter. Was es ja auch tut. Bis es, eines fernen oder nahen Tages, halt nicht mehr weiter geht.

(Den Hinweis auf Eugen Rosenstock-Huessay habe ich gefunden in: Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, Notizen 2011-2013)

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Selbstbeschreibung

Susan Sontag über den jugoslawischen Schriftsteller Danilo Kis:

Als einer jener Schriftsteller, die zunächst Leser sind und am liebsten in der Großen Bibliothek flanieren und umherstreifen und schwelgen und sich ihrer Berufung erst ergeben, wenn der Drang zum Schreiben unerträglich wird, war Kis nicht gerade ein Vielschreiber.

In manchen Beschreibungen findet man sich selber wieder. Auf der einen Seite ist es beruhigend zu erfahren, dass es anderen Autoren genauso geht wie einem selbst. Wenn ich dann aber sehe, dass Kis in seinen vierundfünfzig Lebensjahren neun Bücher veröffentlichte, dann hören die Gemeinsamkeiten doch sofort auf und ich muss mir eingestehen, mit meinen 52 Jahren und einem Buch auf keinen Fall in die Rubrik der Nicht-Vielschreiber zu gehören. Eher in die der Eigentlich-Überhauptnicht-Schreiber.

(Susan Sontag- Danilo Kis, aus dem Essayband Worauf es ankommt)

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Guter Rat

In dem Essay Tanzstunde für Schreibende, zitiert Zadie Smith die Choreografin Martha Graham. Sie leitet das Zitat mit folgenden Worten ein: „Mit der fundierteste Schreibratschlag, den ich kenne, richtet sich ursprünglich an Tänzer.“

Martha Graham schrieb:

Es gibt eine Vitalität, eine Lebenskraft, eine Energie, eine Regung, die durch dich in Handlung umgesetzt wird. Und da es dich über alle Zeit hinweg nur einmal gibt, ist dieser Ausdruck einzigartig. Blockierst du ihn, wird er niemals durch ein anderes Medium hervorgebracht werden und verloren gehen. Die Welt wird ihn nicht erleben. Es ist nicht deine Aufgabe zu entscheiden, wie gut oder wie wertvoll er ist, ob er im Vergleich mit anderen Ausdrucksformen standhalten kann. Deine Aufgabe ist nur, ihn klar und direkt als deinen zu erhalten, den Kanal offen zu halten.

Wenn es gelänge, diese Sätze zu verinnerlichen, dürfte es keine Schreibblockaden geben, gehen diese doch, zumindest bei mir, auf ein tiefsitzendes Gefühl des Ungenügens zurück, nicht zuletzt, weil man sich fortwährend mit anderen (denjenigen, die in den eigenen Augen wirklich gut schreiben können) vergleicht. Das Akzeptieren der eigenen Einmaligkeit (die positive Kehrseite der eigenen Endlichkeit) sollte einem darüber hinweghelfen und dazu führen, die Gedanken an Erfolg, Akzeptanz und Erwartungshaltung auszublenden und sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren, auf das, was in einem lebt und agiert um es auf die eigene, einzigartige Art und Weise in Geschichten und Erzähltes umzusetzen.

(Zadie Smith: Freiheiten, Essays)