Fundstücke II

Das brennende Bett

Ob Ingeborg Bachmann für junge Lyrikerinnen und Lyriker noch von Bedeutung ist, kann ich nicht sagen. Ich vermute aber, gäbe es nicht den nach ihr benannten Literaturwettbewerb in Klagenfurt, dächten die meisten, wenn sie den Namen Bachmann hören weniger an die österreichische Schriftstellerin, sondern vielmehr an den putzigen Waschbären aus den berühmten Kneipenerzählungen von Wilhelm Ortwerg.

In der Geschichte der deutschen Literatur nach dem zweiten Weltkrieg hat Ingeborg Bachmann jedenfalls einen festen Platz und es ist ihr zu gönnen, dass die Mehrheit jener, die diese Behauptung aufstellen, es im Hinblick auf ihr literarisches Werk tut und nicht wegen der vielen privaten Geschichten, die man sich erzählte und noch erzählt. Bachmann und Celan. Bachmann und Enzensberger. Bachmann und Frisch. Und den Umständen ihres Ablebens, im Oktober 73 in Rom.

In der Ausgabe 5/2014 der Zeitschrift Sinn & Form wurden erstmals die Tagebucheintragungen von Christine Koschel – Lyrikerin, Übersetzerin und Mitherausgeberin der Werke Ingeborg Bachmanns- aus den Tagen vor dem Tod Ingeborg Bachmanns veröffentlicht. Sie befand sich damals ebenfalls in Rom und wurde von der Familie der Dichterin bevollmächtigt, sämtliche Formalitäten zu erledigen.

Sie fügt in diesen Aufzeichnungen dem schon Bekannten ein pikantes Detail hinzu. Durch eine Mittelsfrau lässt Max Frisch 14.000 Schweizer Franken nach Rom bringen. Die Familie aber will das Geld nicht. Sigfried Unseld schaltet sich ein. Ob man nicht doch. Nein, man will nicht. Nicht von diesem Menschen. Es wird sogar Blut aus der Schweiz nach Rom gebracht, da dort für die nötigen Transfusionen nicht genügend Einheiten vorrätig sind. Es hilft nichts. Am 17. Oktober stirbt Ingeborg Bachmann.

Die allgemein kolportierte Erzählung, Ingeborg Bachmann sei den Verletzungen erlegen, die sie sich in Folge von Verbrennungen zugezogen habe, weil sie mit glühender Fluppe im Bett eingeschlafen sei, sind noch nicht einmal die halbe Wahrheit.

Was ich nicht wusste – und hier schließt sich wieder einmal einer jener Kreise, die nur dann entstehen, wenn man sich eine Bibliothek anschafft, die durch beständiges Lesen und Wiederlesen am Leben gehalten und durch Weiter- und Gegenlesen ständig vergrößert wird – ist, dass Roberto Calasso, von dem ich alles besitze, was von ihm auf Deutsch veröffentlicht wurde und der, auch wenn mir sein letztes Buch ob seiner geriatrischen Verbocktheit ziemlich auf die Nerven ging, zu meinen Lieblingsautoren zählt, in jenen Tagen, als sich Ingeborg Bachmann im Schwebezustand zwischen Leben und Tod befand, ebenfalls immer wieder im Krankenhaus einfand, um sich nach dem Befinden der Patientin zu erkundigen. Das mag aus persönlichen Gründen so gewesen sein oder einfach nur, weil sein Verlag (Adelphi, Mailand) gerade Bachmanns Malina auf Italienisch herausgegeben hatte und er um seine Investitionen fürchtete. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. In Koschels Bericht jedenfalls kommt Calasso nicht wirklich gut weg. Er erscheint wie einer, der ein Problem lösen muss und nicht wie jemand, der Anteil nimmt. In den letzten Eintragungen vor Bachmanns Tod taucht er auch nicht mehr auf.

Das Problematische an den Tagebucheintragungen von Frau Koschel ist, dass sie einen nicht neugierig machen, weder auf den Menschen Ingeborg Bachmann, noch auf ihr literarisches Schaffen. Beträfen ihre Aufzeichnung eine andere Person, verlöre ihr Bericht nichts an Dramatik. Da es aber um die Bachmann geht, legen sich automatisch Schichten des Kolportierten und irgendwo Aufgeschnappten über die Erzählung und machen es, trotz des Bemühens genau diesem entgegenzuwirken, zum Klatsch.

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Leserbriefe

Ich kaufe gerne gebrauchte Bücher. Es ist der gleiche Impuls, der jemanden statt zum Züchter ins Tierheim gehen lässt, wenn er sich ein Haustier anschaffen möchte. Das, worauf es ankommt hat nichts mit Ungebraucht- oder Neuheit zu tun, sondern liegt im Wesen des Dinges selbst. Gute Bücher haben kein Verfallsdatum und es stören mich weder ein paar Eselsohren, noch ein leicht abgewetzter Einband oder ein paar Flecken am Schnitt (ein Buch, das übel riecht, nach Rauch zum Beispiel, würde ich allerdings nicht haben wollen).

Ein Flohmarkt ist der schönste Ort um gebrauchte Bücher zu erwerben. Hier kommt man in direkten Kontakt mit dem begehrten Gegenstand und weiß sofort ob daraus eine Beziehung wird. Einmal habe ich über diesen Weg sogar ein Buch gefunden, das ich einst verloren hatte. Es war zwar nicht genau dasselbe, aber haargenau das gleiche, mit einer Beigabe versehen sogar, was mir diesen besonderen Fund noch wertvoller machte, obwohl es sich bei dem Buch um ein ziemlich abscheuliches handelte, ein übles Machwerk völkisch-kriegerischer Propaganda, aber eben auch Teil meiner Geschichte als Leser.

Als sich herausstellte, dass ich als einziger ihrer vier Enkel eine sogenannte Leseratte (in meiner streng religiösen Familie hatte dieser Begriff eine gewisse negative Schwingung, als würde Ratte stärker betont, als das Lese), wühlte meine Großmutter eines Tages in alten Kisten, die sich in ihrem Keller befanden und kam schließlich mit einer Handvoll muffig riechender Bücher zurück. Die schwarzen und grauen Stoffeinbände hatten Stockflecken und die Schnitte waren übersät mit Flecken.

„Hier“, sagte meine Großmutter und stellte den Stapel vor mich hin (ich war dreizehn oder vierzehn Jahre alt). „Das haben wir uns früher zu Weihnachten geschenkt. Keine Ahnung ob was Gutes dabei ist. Du wirst es sehen.“

Die Bücher waren Anfang der dreißiger Jahre veröffentlich worden. An zwei davon kann ich mich besonders gut erinnern und es ist vielleicht ein Zufall, vielleicht aber einfach nur ein Zeichen für die Heterogenität der Zeitläufte, dass es sich bei den beiden Büchern um Werke handelte, die sich um denselben Gegenstand drehten, aber diametrale Standpunkte dazu einnahmen, ähnlich der aktuellen Debatte um Handke und Stanisic. Es handelte sich um Remarques „Im Westen Nichts Neues“ und dem Roman „Gespenster am Toten Mann“ von Paul Coelistin Ettighofer. Ersteres eines der weltweit bekanntesten auf Deutsch verfassten Bücher. Das zweite zu Recht völlig in Vergessenheit geraten (gäbe es nicht Wikipedia wüsste heute keiner mehr davon). Beide Bücher handeln vom Ersten Weltkrieg und den traumatischen Erlebnissen der Frontsoldaten. Für einen jungen Kerl von dreizehn Jahren, der in der geistigen Enge eines christlichen Vulgärfundamentalismus aufwuchs, waren beide Bücher eine Abenteuerreise unvorstellbaren Ausmaßes. Zwar saß einem beim Lesen stets der Schreck im Nacken, dennoch konnte man nicht davon lassen sich selbst in dieses Bild zu imaginieren als solcher, der als Überlebender heimkehrt und somit all jenen, die einem im täglichen Leben bis ins kleinste alles vorgaben etwas voraus hatte und in seinem Erfahrungsschatz nicht zu übertreffen war. Remarques Buch las ich vielleicht drei oder vier Mal, den Ettighofer bestimmt doppelt so oft. Heute weiß ich warum. Seine Suggestivkraft ist unvergleichlich höher. Obwohl die gleichen Grausamkeiten geschildert werden, rufen sie im (vor allem jungen, männlichen) Leser unterschiedliche Reaktionen hervor. Bei Remarque wird der kollektive Taumel, in den die gesamte deutsche Gesellschaft 1914 verfiel im Trommelfeuer zermalmt und am Ende stirbt selbst der Erzähler. Ettighofer dagegen hält den teutonischen Enthusiasmus bis in die letzte Zeile aufrecht. Im Gegensatz zu Remarque, folgt auf die Begeisterung keine Ernüchterung. Die Kampfeslust verdampft nicht unter den unzähligen Opfern, sondern sie wird lediglich durch die Niederlage unterdrückt und es besteht kein Zweifel, dass sie eines Tages wieder aufleben wird.

Das dritte Buch, an das ich mich erinnere, war auch von Ettighofer. Es hieß „Nacht über Sibirien“ und schilderte die Flucht eines enttarnten deutschen Agenten von Sibirien nach Deutschland und war ein Vorläufer von „So weit die Füße tragen“ von Josef Martin Bauer – eventuell sogar die Vorlage.

Leider gingen mir die Bücher der Großmutter im Laufe vieler Orts- und Landeswechsel verloren. Ich vermisste ich sie auch nicht, hatten sich meine Lesevorlieben doch mittlerweile grundlegend geändert. Bei einem Wienaufenthalt im Jahr 2006 besuchte ich den Naschmarkt und schlenderte auch über den dahinterliegenden Flohmarkt. Viele Stände boten alte Bücher feil und so verbrachte ich geraume Zeit mit dem Durchwühlen von alten Kisten. Und in einer fand ich „Gespenster am Toten Mann“.

Er sah genauso aus, wie das Exemplar, das ich einst besessen hatte. Allerdings befand sich ein handbeschriebener Zettel darin auf dem stand:

„Wer selbst an der Front gekämpft hat, muss bestätigen, dass in diesem Buch kein Wort erlogen ist, sondern das ist die Wahrheit.

Undank ist der Weldlohn. (sic)

Obwohl mittlerweile dem Inhalt des Buches mehr als skeptisch gegenüberstehend, freute mich der Fund und ich kaufte das Buch sofort. Es war, als hätte es von mir ausgehend eine Reise unternommen und dabei noch ein Artefakt aus der Vergangenheit eingesammelt. Von wem stammte diese eigentümliche, ungelenk formulierte Nachricht? Und an wen war sie gerichtet?

Der Schreiber war offensichtlich ein Weltkriegsveteran. Er verwendet kein Sütterlin, was anzeigt, dass er vor der Jahrhundertwende zur Schule gegangen sein muss. Er wird dieses Buch in der Erstausgabe (welche sie tatsächlich ist) erstanden und sofort begierig gelesen haben. Für wen aber die Nachricht? Ich denke, er machte das Buch einem Freunde zum Geschenk. Jemandem, der zwar nicht seine Erfahrungen als Weltkriegssoldat teilte, aber dennoch unter den Folgen des Krieges litt. In materialer, aber vor allem in psychologischer Hinsicht. Der Schreiber jedenfalls war sich der Vergeblichkeit dieses unsäglichen Opfergangs zwischen 1914 und 1918 bewusst und seine Worte spiegeln die Gemütslage vieler Deutscher während der Weimarer Republik. Es ist anzunehmen, dass er den Aufstieg der Nationalsozialisten begrüßte und durch sie die Schande, die er so lange empfunden hatte, getilgt sah. Wahrscheinlich überlebte er den Krieg und das Buch geriet mit anderen Hinterlassenschaften in den Besitz der nachfolgenden Generation. Die wusste damit nichts anzufangen, schlug das Buch nicht einmal auf sondern, nachdem auch sie gezwungen war, sich dem Alter und der allmählichen Auflösung des eigenen Lebensumfeldes zu stellen, übergab es den Kindern und Enkeln, damit sie damit machten, was immer sie für das beste hielten. Und das war der Flohmarkt.

Zurück in die Gegenwart. Auf der Suche nach interessanten Essaybänden stoße ich auf das Buch „Über die Dummheit der Stunde“ von Olga Martynova, Bachmann-Preisträgerin von 2012.

Die Autorin ist mir unbekannt, aber der Titel gefällt mir und Amazon bietet ein gebrauchtes Exemplar für kleines Geld an. Einige Tage später kommt das Buch. Es ist wie neu. Und auf der dritten Seite hat die Autorin das Buch handschriftlich mit Datum signiert. Linz, 31.01.2019. 

Eine kurze Internetrecherche bestätigt, dass Frau Martynova tatsächlich am 31. Januar in Linz an einer Lesung teilgenommen hatte. Und ich frage mich, wer verkauft für einen Centbetrag (mehr bekommt man nicht, wenn man seine Bücher an Medimops oder wie die Gebrauchtbuchdealer sonst so heißen, verkauft) ein von der Autorin handsigniertes Buch mehr oder weniger unmittelbar, nach dem er oder sie es erstanden hat?  

Enttäuschung? Dass es sich bei dem Buch um einen Essayband handelt ist erst beim Lesen der Buchrückseite ersichtlich und vielleicht hat die Besitzerin oder der Besitzer einen Roman erwartet. Aber wenn er/sie auf der Lesung anwesend war, musste doch das Genre klar gewesen sein? Immerhin hatte die Autorin aus diesem Buch vorgelesen.

Ein Geschenk? Vielleicht wollte da jemand Gutgesinntes einem ihm oder ihr wichtigen Menschen eine Freude machen, ohne zu ahnen, dass der- oder diejenige mit solcherart Büchern, ob nun durch die Autorin mit einer Signatur veredelt oder nicht, überhaupt nichts anzufangen weiß. Dagegen spricht allerdings das Fehlen einer Widmung.

Nein, ich glaube das Buch wurde ganz bewusst gekauft mit dem Wunsch es zu besitzen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine Frau war. Leider ist die Käuferin kurz nach der Lesung einer heftig ausbrechenden Krankheit (aggressives Pankreaskarzinom) erlegen und es blieb ihr nicht einmal die Zeit, den Nachlass zu regeln. Von der Situation entweder überforderte oder einfach nur gleichgültige Kinder oder Enkel haben ihre Sachen in Kartons verpackt und irgendjemand kam auf die Idee, alle Bücher (mein Gott, so viele, wo sollen wir damit hin?) an eine jener ominösen Online-Gebrauchtbuchhändler zu verticken.

Als ich noch bei den wilden Christen war, die dem Glauben an Geister und Dämonen genauso ergeben waren wie dem Glauben an Gott, wurden wir vor Flohmarktkäufen gewarnt, weil man nicht wissen konnte, ob jener Gegenstand, der so harmlos und durch Aussehen, Zweckmäßigkeit und niedrigem Preis zum Kauf einlud, nicht aus dem Besitz eines Zauberers oder eine Hexe stammte und somit auch den einst in dessen Besitz befindlichen Gegenständen ein Dämon anhaftete, der, sobald in unserer Wohnung oder unser Haus gelangt, dort auf das Übelste sein Unwesen treiben würde. Von derart Aberglauben geheilt, freue ich mich, wenn den Gegenständen, die sich einst im Besitz anderer Menschen befanden und auf diesem oder jenem Wege zu mir gelangen, etwas anhaftet, das über ihre bloße Form und ihren bloßen Inhalt hinausgeht. Es fügt ihnen einfach noch die ein oder andere Geschichte hinzu.