Sinn & Form, Drittes Heft 2020, Akademie der Künste
Erste Lektüre in dem neuen Heft: Ein Essay von Sabine Kienlechner über den Begriff Deutsches Abendland, der einen recht kurzweiligen Ritt durch knapp anderthalb Jahrhunderte unternimmt und dabei Halt macht bei Hölderlin, Hegel und Heidegger. Dazu eine Prise Wilhelm von Humbold, Horst Schliemann und natürlich Stefan George, den man es zu verdanken hat, dass über Hölderlin heute überhaupt noch gesprochen wird. Thematisch dreht sich die Schrift um die diesen deutschen Geistesmenschen eigene Bessenheit von der Antike, insbesondere der grieschichen. Und schnell wird klar, wie sich da etwas herausbildete, das später ganz unsägliche Blüten trieb, nämlich der Gedanke (oder das Gefühl) Erbe einer besonderen, herausragenden und einzigartigen Form der Zivilisation – der Zivilisation an sich – zu sein, im Deutschen sich sozusagen das Griechische nicht nur fortsetze, sondern erfülle und das Deutsche Abendland das gleichwertige Äquivalent zum sagenhaften, in den buntesten Farben ausgemalten und mit dem glänzenden Zirat heroischer Abenteuerlust versehenen Orient bildete, der so nur in der verqueren Vorstellung jener teutonischen Psychonauten existierte.
Das Ironische dabei ist, dass nur wenige diese Grecophilen das Land ihrer Projektionen jemals besucht hat. Wahrscheinlich ahnten sie, hier könne nur Enttäuschung und Ernüchterung auf sie warten. So erging es jedenfalls Heidegger, als er im Alter von 73 Jahren schließlich sich wagte, in die Ägäis zu reisen. Er kam nach Korfu, Santorin, Kos und viele andere Inseln. Doch verließ er nie das Schiff.
Das erscheint mir als typisch deutsch. Zwar geht der deutsche Tourist heute gerne an Land, aber dort will er dann nur das haben, was der Reiseprospekt ihm vorgegaukelt hat, so wie Heidegger das Griechenland Homers nicht vermissen wollte und ehe die Realität ihm sein Traumbild verhagelte, es vorzog, erst gar nicht hinzusehen. Der Deutsche ist im Grunde ein Typus, der nur im Kopf reisen sollte. Dort ist alles aufgeräumt und an dem Platz, an den es gehört. Die Sonne scheint, das Meer glitzert und vor Leidenschaft bebende Südländerinnen servieren Bier und Schnitztel, während der Mond mit homerischem Schlachtengeklirr im Meer versinkt.