Éric Vuillard, Der Krieg der Armen, Matthes & Seitz
Ich habe Éric Vuillard erst vor kurzem und durch Zufall entdeckt, aber das, was er in vielen seiner, immer recht knapp gehaltenen, Büchern macht, nämlich kurze Schlaglichter auf bestimmte historische Ergeignisse und Persönlichkeiten zu werfen, trifft genau meinen Geschmack und so wird “Der Krieg der Armen” bestimmt nicht das letzte Buch sein, das ich von ihm lese.
Auf der Rückseite des Buchcovers steht ein Zitat der Zeitschrift Le Monde: “Ein glühender Text”. Derart würde ich das Buch nicht bezeichnen. Es ist kein Pamphlet, in dem der Autor eine klare Position bezieht und mit flammender Rede (ähnlich schwache Metapher wie “glühender Text”) versucht, seine Leser von der Richtigkeit seines Ansinnes zu überzeugen. Vuillard tritt hier nicht für die Sache der Armen ein. Vielleicht sind sie ihm sogar egal, aber das interessiert mich nicht. Es liegt aber etwas ganz Besonders in der Art, wie Vuillard in die Vergangenheit blickt. Er hat keine Scheu vor Oberflächlichkeiten, Vor- und Rückgriffen, Mutmaßungen und bleibt dennoch ganz nah an dem betrachteten Gegenstand (im diesem Fall Thomas Müntzer). Seine Sprache ist bildhaft, assoziativ und von deskreptiver Sinnlichkeit. Zuweilen tritt der Autor aus dem Text hervor und wagt es sogar, den Leser direkt anzusprechen (in einem Text, der sich als historische Betrachtung versteht eigentlich ein Tabu). Das mag wohl auch der Grund sein, warum Vuillards deutscher Verlag Matthes & Seitz behauptet, ihr Autor hätte ein neues Genre erfunden. Vielleicht hat er das. Vielleicht hat er aber auch nur, wie schon andere Autoren und auch Regisseure vor ihm, festgestellt, dass man Geschichte immer wieder neu erzählen muss, damit sie lebendig bleibt. Und dass es nicht immer der große, alle Aspekte eines Themas mit einbeziehende Rundumschlag sein muss, sondern es als Lebenserhaltungsmaßnahme weit zurück liegender Ereignisse manchmal auch genügt, mit kleinen Happen jenen Geschmack zu erzeugen, den die Bewohner bestimmter Zeitabschnitte täglich auf der Zunge hatten.
Was mir an dem Text auffiel, ist das beinahe vollständige Übergehen Luthers. Er wird höchstens zwei oder drei Mal kurz erwähnt (Müntzer hatte ihm, als die Bauernaufstände ihrem unvermeidlichen Scheitern entgegenstrebten, einen Brief geschrieben, den der große Reformator selbstredend nicht beantwortete.) Ein deutscher Autor hätte sich dies wohl kaum getraut. Als wolle Vuillards deutscher Verlag diesen Missstand wenigstens äußerlich beheben, prangt der Name Martin Luther gleich zu Beginn des Klappentextes, während Thomas Münzer erst sechs Zeilen und einen Satz später Erwähnung findet. Ohne Luther eben keine Reformation, kein Aufbegehren gegen religiösen Absolutismus. Überhaupt interessieren die Bauernaufstände heute niemanden mehr so wirklich – ja, war schlimm damals, aber die Reformation und was Luther für deutsche Sprache und überhaupt.
Jedoch, war Luther wirklich der historische Glücksfall, für den er von so vielen heute noch gehalten wird? Wie sähe unsere Welt aus, hätte es ihn nie gegeben? Die Reformation, so viel steht fest, hätte in der ein oder anderen Form sowieso stattgefunden. Die startete ja nicht mit Luther, sondern eigentlich mit John Wycliff, der schon gut 150 Jahre vor Luther die Überzeugung vertrat, die Menschen sollten die Bibel in ihrer eigenen Sprache lesen und hören können und auf die Diskrepanz zwischen dem Jesus der Evangelien, der die Niedergedrückten und Armen zu sich rief, und dem katholischen Klerus, der diese verachtete und ausbeutete, hinwies.
Womöglich wäre die Geschichte der katholischen Kirche auch anders verlaufen, hätte die durch Luther angefachte Reformation, die sich hauptsächlich in den Fürstenhäusern verfing (und somit schnell von Glaubens- zur Machtfrage wurde) und die Armen links liegen ließ, nicht eine so heftige Gegenreaktion hervorgerufen, die grundlegende Reformen bis zum heutigen Tag unmöglich macht.
Vielleicht wäre die deutsche Sprache heute schöner ohne Luther. Vielleicht wäre der Antisemitismus in Deutschland nicht so tief verwurzelt. Vielleicht hätte es sogar einen Hitler nicht gegeben.
Natürlich sind das Mutmaßungen. Aber Luther als Glücksfall der deutschen Geschichte zu bezeichnen, scheint mir doch sehr weit hergeholt. Die deutsche Geschichte kennt nur zwei Glücksfälle: Die Erfindung der Sozialversicherung und den Sieg der Alliierten 1945.