Éric Vuillard, Kongo, Matthes & Seitz
Nochmal Éric Vuillard. Diesmal: Kongo. Das Buch handelt von der Kongo-Konferernz, die der deutsche Heringskanzler 1884 einberufen hatte mit dem Ziel, die Handelsverhältnisse in Zentralafrika zu regeln. Vuillard konzentriert sich auf einige der Anwesenden in der ihm ganz eigenen Art – ein von zurückhaltenden Spott durchzogenes Herantreten an die äußere Erscheinung und die charakterliche Ausformung des Protagonisten.
Am Ende bleibt er bei den Belgiern hängen, die im Auftrag von König Leopold einen Großteil des Kongogebietes sich einverleibten, um daran ohne jedwede Rücksicht sich zu bereichern. Je weiter die kurze Schrift voranschreitet, desto mehr spürt man das Bemühen Vuillards passende Worte und Bilder zu finden, für das Grauen (Das Grauen! – wie man es Joseph Conrads Herz der Finsternis und Coppolas Apokalypse Now kennt) und das sagenhafte Leid, welches die weißen Ausbeuterer über die Menschen brachten. All das mündet schließlich in einen Fiebertraum und der Beschreibung des kläglichen Endes einer der vielen Handlanger, die, auf eigenen Gewinn erpicht, für den König die Peitsche schwangen und mit allerlei Gewalt und Feuer eine blutige Spur der Zerstörung hinterließen in einem Land, das sie nie verstanden, das sie hassten, mit Menschen, die sie nicht verstanden und die sie hassten, die für sie Dreck waren, weniger wert als die tote Maus, die einem die Katze morgens vor die Schlafzimmertür legt.
Unweigerlich musste ich an die Vorfälle in Minnesota denken, an das Bild von dem weißen Polizisten, das Knie auf den Hals von George Floyd gedrückt, dessen Rufe um Hilfe, das Wissen um seinen Tod nur kurze Zeit später. Die Versuchung, die “dort drüben” abzustempeln als Rassisten, als eine bis in ihre Wurzeln verkommene Gesellschaft, regiert von der fleischgewordenen Inkompetenz, der krawattenbehangenen Misogynie, den Posterboy des old-white-man und was einem sonst noch so an schlechten Eigenschaften einfallen mag.
Nur haben wir keinerlei Grund uns auf die Schulter zu klopfen. Auch bei uns sterben dunkelhäutige oder sogenannte fremdländische Menschen in Polizeigewahrsam. Natürlich ist es nicht so wie in den USA, wo einer von tausend farbigen jungen Männern die Gewissheit haben darf, von der Polizei erschossen zu werden. Aber auch hier muss ich als Nichtweißer immer damit rechnen, bei einer Kontrolle als erster heraugezogen zu werden und allein durch die Tönung meiner Haut Verdacht zu erregen.
Wie aber damit umgehen als jemand, der, geschichtlich gesehen, zur Tätergruppe gehört und noch nie in seinem Leben rassistische Diskriminierung erfahren hat? Ich bilde mir ein, meinen Vorrat an Vorurteilen auf den geringst möglichem Niveau eingependelt zu haben. Aber das ist natürlich Selbstbetrug. Es geht ja nicht darum, ob ich das N-Wort gebrauche, alle Moslems für potentielle Terroristen halte oder bei jedem Dunkelhäutigen sofort denke, er befände sich gerade auf der Jagd nach jungfräulichen weißen Töchtern.
Viel schlimmer ist die Tatsache, Profiteur einer Gesellschaft zu sein, die auf Ausbeutung und Ausgrenzung aufgebaut ist. Meine Empörung, wenn ich die Bilder von George Floyd, den Opfern der NSU, den Toten von Hanau und Solingen sehe, verlässt den Sessel nicht, auf dem ich sitze. Sie dröhnt in meinem Kopf und ist Schmerz und Entschuldigung gleichermaßen. Was nicht stattfindet ist eine wirkliche Bewegung, eine wirkliche Reaktion. Stattdessen halte ich die Menscheit als Ganzes für einen fürchterlichen Irrtum der Evolution und erteile mir durch diese, mich selbst einschließende Verurteilung die Absolution für mein Nichtstun. Ich sehe Bilder aus Hong Kong von gefesselten, auf den Boden gedrückten jungen Menschen, die Gesichter vor Schmerz und vom Tränengas verzerrt und verquollen und denke: Was eine Grausamkeit! Wie viel Leben und Freiheit ist in diesen Moment erstorben, wie viel Hoffnung niedergeknüppelt und was hat dieser Mensch, der vielleicht den Rest seines Lebens unter dem leiden wird, was er an diesem einen Tag getan hat (nämlich zu protestieren) und ihm daraufhin angetan wurde, für einen hohen Preis bezahlt, nur damit andere, die nach ihm kommen (morgen, in einem Jahr, in zehn Jahren?) es besser haben und ihre Freiheit genießen können. Dieser Mut beschämt mich, weil ich denke, ihn nie haben zu können.
Zurück zu Vuillard. Es gibt in seiner Art zu schreiben etwas, was ich bewundere und ich mir gerne aneignen würde. Es ist ihm egal, was andere darüber denken, wie er schreibt. Er nimmt sich sein Thema, dreht und wendet es, fügt hinzu, lässt weg, formt und verformt und macht es damit zu etwas eigenem. Völlig ungeniert betreibt er eine Form von historical appropriation und das letzte wovor er Angst hätte, wäre ein Geschichtsprofessor, der ihm auf die Füße kackt. Nicht dass er es mit den Fakten nicht genau nähme. Nein, nur geht er nicht einen, sondern zwei oder drei Schritte weiter in der Überzeugung, in diesem, der Beweisbarkeit fast gänzlich entzogenem Terrain auf die Wahrheit zu stoßen, die hinter all dem liegt, was bekannt und verlässlich dokumentiert ist. Mit anderen Worten, er macht aus Geschichte Literatur, aber nicht durch grandiose Flügelschläge wie zum Beispiel Hillary Mantel (oder viele andere vor, mit oder nach ihr), sondern durch ein Zittern, das sämtliche Glieder des rein Faktischen durchfährt und ihnen fremdartige, aber ihrem Wesen vollständig entsprechende Bewegungen entlockt.