Der ungarische Philosoph Lajos Barabasch, ein Freund von George Lukács und Melchior Palagyi, entwickelt in seinem 1934 erschienen Traktat „Vom Überschreiten der Zeit“ die Idee, Zeit bestehe aus winzigen Bruchstücken, die jedes für sich existieren. Er beruft sich dabei auf Aristoteles, bewegt sich aber sehr schnell weg von dessen Auffassung, dass diese Zeitpartikel zwangsläufig ein Kontinuum bilden. Barabasch behauptet, sie könnten durchaus auch inkohärent auftreten und ein Mensch erlebt sich in einem Moment als Bewohner Ungarns zur Zeit Gyula Gömbös und in der nächsten Sekunde als Untertan Belas des Ersten. Beweise dafür blieb Barabasch natürlich schuldig, auch wenn er als Zeugen jene anführte, die glaubten, schon einmal gelebt zu haben. So fanden seine Überlegungen wenig Gehör, und nachdem sich der Philosoph kurz nach Begin des zweiten Weltkrieges das Leben genommen hatte, geriet er schnell in Vergessenheit.
Vor kurzem stieß ich auf zwei Texte (die eigentlich nur einer sind), welche Barabaschs Überlegungen stützen. Den ersten entdeckte ich in der Zeitschrift „Spuren“, einem Magazin, das in den siebziger Jahren in Österreich erschien und Aufsätze und Geschichten über paranormale Phänomene enthielt. In der Ausgabe 2/73 fand sich eine Geschichte eines gewissen Torben Süßmuth, die ich nur aufgrund des etwas eigenartig klingenden Titels las. Die Überschrift lautete: Rettungsversuch für eine Tote.
Auf dem Weg nach B. überraschte mich am späten Vormittag ein heftiger Sturm, der mit Regen, Hagel, Blitz und Donner daherkam. Ursprünglich hatte ich geplant, zum Einbruch der Nacht in dem kleinen Ort L…burg zu sein, doch wegen des Unwetters beschloss ich, im nächsten Haus, auf das ich stieße, um eine Unterkunft zu bitten. Nach zwei Stunden Fußmarsch und bis auf die Haut durchnässt, sah ich ein Anwesen, etwas abseits des Weges. Beim Näherkommen bemerkte ich, dass es alt und verfallen aussah. Der Schotterweg zum Haupthaus hatte schon den Kampf gegen Moos und Grasnarben verloren, einige Fensterscheiben waren zerbrochen, Fensterläden schlugen, auf der Ober- oder Unterseite aus den Scharnieren gefallen, wie willenlose Flügel gegen den bröckelnden Putz. Nichts ließ darauf schließen, dass hier noch jemand lebte, aber, so dachte ich mir, wenn die Türe nicht verschlossen wäre, dann hätte ich wenigstens einen Unterschlupf und Schutz vor dem Sturm. Aus anerzogener Höflichkeit klopfte ich gegen die große Haustür. Schließlich drückte ich den gusseisernen Knauf herunter, und tatsächlich ließ sich die Tür öffnen. Ich ging hinein. In dem Moment, in dem ich die Türe hinter mir schloss, trat eine plötzliche Ruhe ein. In der Eingangshalle war es dunkel, aber im oberen Stockwerk, zu dem eine lange Treppe hinaufführte, sah ich Licht.
„Hallo, ist da wer?“, rief ich mit lauter Stimme, doch niemand antwortete. Ich streifte meine Jacke ab, da es im Haus ungewöhnlich warm war. Langsam schritt ich die Treppe herauf, etwa bis zur Mitte und rief erneut. Wieder bekam ich keine Antwort. Am Ende der Treppe erstreckte sich ein langer Korridor, der mit einigen Kerzen erleuchtet war und von dem in großzügigem Abstand auf jeder Seite drei Zimmer abgingen. Am Kopfende des Flures befand sich ein weiterer Raum, dessen Tür aufstand. Ich klopfte am Türrahmen und ging hinein. Ein alter Mann saß dort am Rand eines großen Bettes, in dem eine Frau lag. Sie hatte die Augen geschlossen und ihr Gesicht war eingefallen und blass. Der Mann hielt ihre Hand und redete leise auf sie ein. Ich stand schon fast neben dem Alten, als er mich bemerkte. Er hatte einen wässrigen Blick und schien nur wenig überrascht, einen Fremden in seinem Haus zu sehen.
„Ich habe geklopft und gerufen“, sagte ich entschuldigend.
Der Alte ließ die Hand der Frau behutsam aus der seinen gleiten und stand auf.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte er, „ich habe Sie nicht gehört. Meine Frau…“ und dabei zeigte er auf die bleiche Gestalt in dem Bett, „ist sehr krank und braucht mich ständig bei ihr. Was kann ich für Sie tun?“
Der Mann war nicht groß, sein schütterer Haarkranz befand sich auf Höhe meiner Brust und überhaupt war er eine ausgemergelte und kümmerliche Gestalt, passend zur Siechenden unter dem schweren Daunenzeug.
„Das Unwetter“, sagte ich und deutete auf das einzige Fenster im Raum, vor das schwere Vorhänge gezogen waren.
„Oh, ein Unwetter. Heute Morgen war es noch so schön“, sagte der Alte. „Aber auch drückend. Da kommt dann schnell etwas.“
Er ging zum Fenster und schob die Vorhänge etwas beiseite, um hinaus zu sehen. Ein heller Lichtstrahl fiel schräg über das Bett zur Tür hin.
„Naja“, meinte er, „scheint sich beruhigt zu haben. Aber das Wetter ist launisch, wie alles im Leben.“
Er trat vom Fenster weg und setzte sich wieder zu seiner Frau ans Bett.
„Wenn ihnen die Unkommodität dieses Hauses zusagt, können Sie gerne bleiben. Sie sind auf Reisen?“
„Ja“, erwiderte ich, „ auf dem Weg nach B. Ich studiere dort.“
„Oh“, sagte der Alte und schien neugierig. „Was studieren Sie denn?“
„Wissenschaften“, sagte ich.
Der Alte nickte, ohne seinen Blick von der Kranken zu wenden.
„Wissenschaften. Das ist gut. Man kann nie genug wissen.“
„Ist es wirklich kein Umstand, wenn ich bleibe?“, fragte ich vorsichtig. „Nur bis morgen, dann bin ich sehr früh schon wieder weg. Um Verpflegung brauchen Sie sich nicht kümmern. Eine einfache Schlafstatt und ich bin der dankbarste Mensch der Welt.“
Ein Lächeln huschte über das faltige Gesicht des Alten.
„Dieses Haus hat in seiner übervollen Leere einen großen Mangel an Leben, aber keinen an Schlafgelegenheiten. Suchen Sie sich einfach ein Zimmer und machen es sich dort bequem. Nur entschuldigen Sie bitte, wenn ich bei meiner Frau verweile. Es steht heute gar nicht gut um sie.“
Er nahm aus einer mit etwas Wasser gefüllten Schüssel ein Tuch, drückte es mit seinen knöchrigen Fingern aus und legte es der Frau auf die Stirn.
„Was fehlt ihrer Frau?“, traute ich mich zu fragen.
„Sie hat seit einer Weile Fieber und Schmerzen. Das Alter vielleicht, oder eine plötzliche Krankheit, ich weiß es nicht.“
Er nahm das Tuch von ihrer Stirn und befeuchtete Wangen, Mund und Kinn der Kranken. Ihr kalkweißes Gesicht leuchtete in dem abgedunkelten Raum, als würde all das spärliche Licht des Zimmers sich auf ihrer Haut sammeln und als kranker Widerschein zurückgestrahlt.
„Haben Sie schon einen Arzt konsultiert?“, fragte ich.
„Nein“, meinte der Alte kopfschüttelnd. „Sicher, das wäre eine gute Idee. Aber der Arzt wohnt im Dorf, etwa eine Stunde von hier. Um ihn zu rufen, müsste ich sie alleine lassen. Und das möchte ich nicht. Wir haben uns noch nie gegenseitig alleine gelassen, verstehen Sie?“
„Ich kann für Sie gehen und den Arzt holen“, schlug ich vor. „Der Sturm hat sich ja gelegt und ich bin schnell zu Fuß.“
Der Alte blickte mich mit seinen gelben, feucht schimmernden Augen an.
„Wenn Sie das für uns tun würden… Vielleicht kann er ihr tatsächlich helfen.“
„Wo finde ich den Doktor?“, wollte ich wissen.
„Gleich am Eingang des Dorfes. Sein Name ist mir entfallen, aber er wohnt im zweiten Haus auf der linken Seite. Schnell gehen Sie. Bitte!“
Mit den letzten Worten war seine Stimme schrill geworden und ich sah wie sein ganzer Körper bebte.
„Gehen Sie schnell!“, wiederholte er. „Laufen Sie und retten Sie meine Frau und mich!“
Etwas veranlasste mich, dem Alten meine Hand auf die Schulter zu legen. Vielleicht wollte ich ihn beruhigen, oder einfach nur versichern, dass er sich auf mich verlassen könne. Seine Schulter war knochig und der Baumwollstoff seines Hemdes fühlte sich feucht und kalt an.
Ich zog meine Jacke über, lief den Flur entlang, die Treppe hinunter und durch die dunkle Eingangshalle wieder nach draußen. Zu meinem Erstaunen war der Sturm offenbar zurückgekehrt. Heftiger als zuvor ließ er alle Bäume schwanken und trieb Laub und loses Geäst in wilden Wirbeln durch den Garten und über den Weg. Ich klappte den Kragen meiner Jacke hoch und lief so schnell ich konnte zur Straße und dann immer weiter in Richtung Dorf.
Als ich dort ankam, war es schon dunkel. Zunächst standen nur einige Häuser auf der rechten Seite der Straße, dann aber folgte ein Hof auf der linken. Danach ein altes Haus, indem jedoch kein Licht brannte. Dies musste das Haus des Doktors sein. Ich hämmerte gegen die Tür, rief und klopfte. Nichts jedoch rührte sich. Also lief ich weiter ins Dorf hinein und kam zu einer Schenke, an einem kleinen Platz, den ich für den Marktplatz hielt.
Drinnen saßen einige Männer und tranken Bier in der stickigen Luft. Ich ging zum Tresen und sprach den Wirt an:
„Ich suche den Doktor.“, sagte ich, völlig außer Atem.
Der Wirt war ein großer Mann, trug weiße Hosen und einen weißen Kittel, übersät mit Flecken und Spritzern.
„Welchen Doktor, Fremder?“ fragte er.
„Den, der am Ortauseingang wohnt, im zweiten Haus auf der linken Seite.“
Der Wirt sah zunächst mich, dann die anderen Gäste verwundert an, die mittlerweile von ihren Gesprächen oder ihrem Kartenspiel gelassen hatten und alle in meine Richtung starrten.
„Der meint doch nicht den alten Hurfengel?“, fragte einer.
„Ich weiß seinen Namen nicht“, erklärte ich, „nur dass er eben dort wohnt, und dass der alte Mann, der an der Straße in Richtung A. lebt, seine Hilfe braucht. Die Frau des Mannes ist sehr krank.“
Alle sahen mich an als wäre ich ein Geist oder sonst eine sonderbare Erscheinung. Der Wirt war der erste, der die Sprache wieder fand.
„Welcher alte Mann?“ fragte er.
„Der Alte, der mit seiner Frau in diesem schon sehr verfallen Haus wohnt, etwa eine Stunde von hier.“
„Der meint doch nicht den Professor?“, fragte wiederum jemand.
„Ob er Professor ist, weiß ich nicht. Er ist klein und alt und seine Frau liegt in schwerem Fieber.“
Plötzlich fing der Wirt an zu lächeln. Nicht nur zu lächeln, es wurde ein Lachen, das sein ganzes Gesicht überschwemmte.
„Junger Freund“, sagte er, „sie sind wohl zulange in diesem Sturm da draußen gewesen. Hat es Ihnen vielleicht den einen oder anderen Ast aufs Haupt geweht? Der Arzt, nach dem sie fragen, ist schon lange von hier fortgezogen. Und das Haus, von dem sie sprachen, ist das vom Professor. Und der ist schon seit Jahren tot.“
„Aber nein“, rief ich, „das kann nicht sein. Ich war doch heute dort, habe mit ihm geredet. Seine Frau ist sehr krank und er sorgt sich, weil sie dringend einen Arzt benötigt.“
Die Belustigung des Wirtes griff nun über auf alle Besucher der Schenke und es wurden abenteuerliche Vermutungen angestellt, auf welche Weise der Sturm mir die Sinne verwirrt hätte. All meine Beteuerungen die Wahrheit zu sagen, nützten nichts. Sie spotteten, dann wollten sie mich einladen mit ihnen zu trinken, aber keiner schenkte mir Glauben oder bemüßigte sich, mir bei der Suche nach einem Arzt zu helfen. Schließlich war ich am Ende meiner Geduld und ich wusste mir keinen anderen Rat, als zum Haus des Alten zurückzulaufen, um ihn, wenn ich schon keinen Arzt auftreiben konnte, doch wenigstens beizustehen, und sei es, die letzten Stunden seiner Frau für ihn etwas erträglicher zu gestalten.
Doch, als hätte es der Wirt in seinem ungehobelten und schelmenhaften Sinn vorausgesehen, traf mich auf halben Weg zurück ein Ast an den Kopf, so dass ich bewusstlos im Straßengraben liegen blieb.
Der nächste Morgen war kühl und neblig und ich erwachte mit furchtbaren Schädelschmerzen. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich gesammelt und die Ereignisse des Vortages rekapituliert hatte. Obwohl noch sehr schwindelig im Kopf, lief ich so schnell es ging zum Haus des Alten. Inzwischen hatte die Sonne den Nebel niedergekämpft und das Anwesen machte im ungetrübten Tageslicht einen noch verwahrlosteren Eindruck, wie unter dem sturmschwarzen Himmel am Vortag. Und wie gestern, fand ich die Türe unverschlossen. Innen war es kalt und klamm und ich konnte keinerlei Licht von oben erkennen. Ich rannte die Treppe hinauf, die unter meinen Schritten ächzte und knarzte, ging in den Flur und fand dort alle Türen verschlossen. Das Zimmer am Ende des Ganges war ebenso verlassen, wie alle anderen, die ich der Reihe nach untersuchte. Jedes Möbelstück war mit einem Laken umhangen und alles erweckte den Eindruck, als hätte seit Jahren niemand mehr dieses Haus betreten. In meiner Verwirrung rief ich ständig nach dem Alten, doch bis hinunter in den dunklen, von Spinnennetzen durchwobenen Keller, war keine Menschenseele zu finden.
Voller Angst und zutiefst bestürzt machte ich mich auf den Weg zurück ins Dorf. Der Wirt begrüßte mich wie einen alten Bekannten und fragte, ob ich mich denn vom Sturm und all den Schäden, die er bei mir angerichtet hatte, gut erholt hätte. Nochmals fragte ich ihn nach dem Professor und er wiederholte, was er mir schon am Abend zuvor erzählt hatte. Der Professor, der wäre schon vor mehr als zehn Jahren gestorben. Allein hätte er dort gewohnt, nach dem Tod seiner Frau. Man habe ihn im Garten gefunden, irgendwo zwischen den Kiefern und alle waren sich einig, dass er seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte, weil er den Tod seiner Frau nicht verkraftet, und das Leben alleine nicht zu meistern gewusst hätte.
Und so wurde mir bewusst, was ich während des ganzen Weges zurück ins Dorf schon geahnt hatte. Ich hatte eine Geistererscheinung gehabt und versucht, eine Tote zu retten.
Ich muss gestehen, dass mir die Geschichte nicht besonders gefällt. Nicht in dieser Version. Der Sprache und der beschriebenen Umstände nach, spielt sie wohl Anfang des letzten Jahrhunderts. Sicher, sie war nicht gänzlich ungeschickt erzählt, aber doch vorhersehbar und letzten Endes einfach gestrickt. Das Sujet ist zu bekannt. Zumal der Erzähler zwei sehr wichtige Dinge nicht aufzulösen vermag.
Das eine betrifft die Reaktion der Dorfbewohner. Es hätte sie erstaunen müssen, dass ein Fremder von einem Arzt wusste, der schon lange nicht mehr dort lebte. Der viel wichtigere Punkt aber betrifft das Wetter. Der Erzähler zeigt sich nur mäßig erstaunt über die Tatsache, dass der Sturm, als er das Haus betritt plötzlich nachlässt, um in dem Moment wieder loszubrechen, wo er das Haus verlässt.
Dennoch habe ich weder die Geschichte (ich gebe zu, ich habe eine Schwäche für Erzählungen, die von unglaublichen Dingen berichten), noch den Namen des Autors ganz vergessen.
Letzte Woche nun fand ich beim Durchstöbern alter Bücher auf dem Flohmarkt, ein Buch eben jenes Torben Süßmuth. Eine Autobiografie mit dem Titel Glauben an das Unglaubliche, erschienen 1934 im Weger Verlag, Südtirol. Ich blätterte es durch und stieß auf ein Kapitel, mit der Überschrift: Mein Erweckungserlebnis. Und zu meinem Erstaunen war dort Wort für Wort die erwähnte Geschichte abgedruckt. Nur, dass sie um einiges länger war. Unter Auslassung der zwei pathetischen Schlusssätze, erzählt Süßmuth die Geschichte weiter (und er beteuert im Vorwort dieses Buches, alles darin Geschilderte habe sich tatsächlich so zugetragen).
Ob es noch jemanden gäbe, der den Professor persönlich gekannt habe, fragte ich den Wirt.
„Alle, die ihn überlebt haben und jetzt noch da sind, kennen ihn“, antwortete er.
„Wie war denn sein Name?“
„Oh“, meinte der Wirt, „ Zackelsberger oder Wackelsberger. Wir haben ihn ja nur immer Herr Professor genannt.“
Nochmals fragte ich nach näheren Bekannten und der Wirt verwies mich auf die Universität in B., denn dort habe er schließlich all die Jahre gelehrt. Und was den Namen beträfe, der lautete bestimmt Zackelsberger. Da wäre er nun sicher.
Gespannt machte ich mich auf den Weg nach B. Ich wusste auch schon, wen ich an der Universität fragen musste, um nähere Informationen über den Professor zu bekommen – unseren Archivar.
Ignaz Kraxner war ein hohles Männlein, der keiner Sache traute, die sich nicht aufgeschrieben fand. Er war Herr über abertausende von Schriftstücken, die nicht nur das Wissen bewahrten, das an unserer Universität im Laufe der Jahrhundert angesammelt worden war, sondern auch die Geschichte dieses Instituts bis ins Kleinste dokumentierte. Einblick in diese Sammlung zu erhalten war nur mit schriftlicher Erlaubnis der Professoren möglich und selbst dann gestatte Kraxner niemanden, die wertvollen Blätter auch nur zu berühren, sondern er legte sie auf einen der hölzernen Tische, die verteilt im Archiv standen. Brav wartete er, bis wir sie durchgesehen und unsere Notizen gemacht hatten, um sie danach sofort wieder an den für sie vorgesehenen Platz zu bringen.
„Ah, der Professor Hackenberger“, sang Kraxner im Dialekt, „selig seine Seele. Das war ein guter Mensch.“
„Da ich mich sehr für die Geschichte unserer geliebten Universität interessiere“, versuchte ich glaubhaft zu versichern, „ würde ich gerne mehr über diesen außerordentlichen Mann erfahren. Was hat er gelehrt?“
„Wissenschaften“, kam die knappe Antwort.
„Wissenschaften. Das ist gut. Man kann nie genug wissen.“
„Ja was will Er denn nun?“, fragte Kraxner ungeduldig.
Jetzt war eine Lüge notwendig. Eine glaubhafte Geschichte, die mir der verknöcherte Archivar abnehmen würde. Eine, die mit Autorität untermauert wäre.
„Mein Professor, Sie kennen ihn, er meint, der Herr Professor Hackenberger sei die richtige Leitfigur für uns junge Studenten. Sein Beispiel erleuchte den Pfad, der zur Erkenntnis und Wissen führt und deshalb sollten wir ihn uns zum Vorbild nehmen. Und da ich, im Gegensatz zum meinen Kommilitonen, auch Umwege nicht scheue, habe ich mir gedacht, Sie könnten mir mehr Auskunft geben über diesen hervorragenden Mann.“
„Das hat ihr Professor gesagt? Über den Hackenberger? Na das wundert mich dann schon.“
Kraxner zog den linken Nasenflügel ein wenig nach oben, was bei ihm immer das Zeichen einer gewissen Sympathie war und so wagte ich einen kühnen Vorstoß.
„Können Sie mir nicht was geben“, fragte ich, „das meinen Professor beeindruckt? Etwas, das zeigt, dass ich mich wirklich mit Energie der Aufgabe angenommen und fleißig über den Herrn Professor Hackenberger geforscht habe?“
Kraxner überlegte eine Weile, während er den schmalen Schlitten seines Nasenbeins massierte. Dann sagte er:
„Als der Professor starb, erbte ein Neffe, der irgendwo im Ausland verweilt, seinen Besitz. Gekümmert hat er sich allerdings nicht darum. Des Professors persönliche Aufzeichnungen wurden uns überantwortet. Ich könnte sie Ihnen zeigen…“
Kraxner machte eine Pause, um mir die Schwere der Entscheidung, die er nun zu treffen hatte, deutlich zu machen.
„… aber die sind, ohne persönlich werden zu wollen…sehr…“
„Schwer verständlich?“, versuchte ich den Archivar auf die Sprünge zu helfen.
„Durcheinander.“, sagte er schließlich und schien erfreut, das richtige Wort gefunden zu haben. Wobei ihm sogleich noch ein besseres einfiel:
“Unübersichtlich.“
„Darf ich dennoch einen Blick hineinwerfen?“ fragte ich.
Wieder überlegte Kraxner unnötig lange, um schließlich mit einem Seufzer zu sagen:
„Na gut. Wenn es Ihr Professor so will. Und ich möchte Ihrer Carrier ja auch nicht im Wege stehen.“
Sprachs und verschwand zwischen den vielen Regalen, um nach einigen Minuten mit einem Stapel von lose gebunden Heften zurückzukommen.
„Das sind sie“, sagte er beinahe triumphierend. „Blättern sie mit Bedacht. Ich bin hier bis um neun Uhr. Solange können Sie darin lesen.“
Artig bedanke ich mich und machte mich sogleich über die Aufzeichnungen. Schnell stellte ich fest, dass Kraxner nicht übertrieben hatte. Alle Hefte waren voll geschrieben, ohne Absätze und zusätzlich mit Randnotizen versehen. Das meiste drehte sich um seine Forschungen, aber hin und wieder gab es Passagen, da beschrieb er einen Studenten, der ihm aufgefallen war, ein gutes Essen mit Freunden, die Pflege seines Hauses und die Probleme der Rosenzüchtung. Zwischendrin fanden sich Tagebucheintragungen, die sich hauptsächlich um das körperliche Befinden entweder seiner Frau oder seiner selbst drehten. Lange hatte ich meine Ruhe, doch dann hörte ich, wie Kraxner zurückkam.
„Eine halbe Stunde haben Sie noch. Dann ist Feierabend.“
Höflich bedankte ich mich und blätterte weiter. Ich war gerade dabei, das letzte der Hefte durchzuschauen, da stieß ich auf folgen Eintrag, datiert auf den 03.02.19..:
„Welch Weh mit Lieschen! Die Knochen, sagt sie, bohren sich durch ihre Haut, die sich ihr wie zu Tode gegerbtes Leder anfühlt. Was frisst da in ihrem Leib?“
Und für die folgende Nacht:
„Kein Schlaf mehr möglich. Sie ist kalt, als wollten sich Eisschollen auf ihrer bleichen Haut bilden. Warum scheute sie den Arzt so lange? Warum scheue ich ihn? Aber auch sie sind nur Wissenschaftler und wissen gar nichts!“
05.02.
„Ich bete wieder. Hilfloses Selbstgespräch, elende Jammerei. Und doch, es scheint, als ob es ein Auge gäbe, das zu uns herabschaut. Lieschen ist mit hohem Fieber durch die Nacht gegangen. Wenn es Wunder gäbe, so dachte ich, wäre jetzt die Zeit. Dann stand ein Fremder im Zimmer, ein Student auf Durchreise und fragte nach Obdach. Ein Sturm hatte ihn ins Haus getrieben und nun weiß er auch um den Sturm im Haus und hat sich bereit erklärt, den Doktor zu holen. Wenn dieser nur lindern kann, den Kiesweg einebnen, auf dass Lieschen noch ein wenig weiterschreiten kann.“
06.02.
War es ein Teufel oder ein Traum? Der junge Mann kommt nicht zurück. Lieschen fiebert und wird irre. Redet von Kindern, die sie nie hatte. Jagt mir ihre Träume ins Gesicht, und ihr Wahn geht immer mehr auf mich über. Warum kommt niemand? Für einen Moment schien es mir, als gäbe es doch einen Grund zu glauben.“
12.02.
Die Erde, in die man Lieschen gelegt hat, ruft auch mich. Es gibt noch zu ordnen, zu regeln, bis ich ihr nachgehe.
Es folgten noch einige Berechnungen und eine kurze Abhandlung über ein mathematisches Problem, das ich nicht verstand, dann war ich am Ende der Aufzeichnungen. Kraxner erschien und nahm die Hefte vom Tisch.
„Und“, fragte er, „sind Sie jetzt schlauer?“
Wie im Traum antwortete ich:
„Ja, das bin ich.“ Und als ich das Archiv verließ, über den großen Hof ging, das beeindruckende Gebäude unserer Universität im Rücken, dachte ich: Ja, ich bin viel schlauer. Denn ich weiß jetzt, dass es eine Wissenschaft gibt, der ich mich verschreiben muss. Der Wissenschaft von den Dingen, jenseits aller wissenschaftlichen Erkenntnis.
Es ist offensichtlich, dass Süßmuth aus diesem Erlebnis die falschen Schlüsse gezogen hat. Den Rest seines Lebens beschäftigte er sich mit Spiritismus, Okkultismus, Astrologie und dem Vodookult. Immer auf der Suche nach dem Übernatürlichen, dessen Zeuge er selbst gewesen zu sein glaubte. Vielleicht hatte er aber nur jene Grenze überschritten, von der Barabasch in seinem Traktat sprach und ist von einem Zeitpartikel in einen anderen gefallen. Dann hätten wir es hier mit Physik zu tun, und nicht mit irgendwelcher Geisterseherei.
Bleibt die Frage, ob Süßmuths Geschichte wahr ist? Aber ist denn Barabaschs Vermutung über die Zeit wahr? Ich denke, es geht nicht um wahr oder falsch. Unsere Welt besteht nicht aus Tatsachen, sondern nur aus Möglichkeiten. In jedem denkenden Kopf wird eine von diesen favorisiert, eine andere abgelehnt. Nur manchmal, da kreuzen sich die Wege. Dann trifft eine Idee auf eine Geschichte, und egal, ob alles nur erdacht und erfunden wurde, ihr Zusammentreffen bezeugt, dass sie wahrhaftig sind.