Die Kulturgeschichte der Selbstbefriedigung in 66 Höhepunkten

So nannte Lazlo Kossak seinen berühmten Essay über die schwarze Kunst des friesischen Lyrikers Halle Eigenbleu, dessen engmaschige Wortgewebe angeblich wenig Platz für Licht und oder gar Liebe ließen, dafür einer morbiden Vergänglichkeitsgegenwärtigung in jeder Verschlingung der Wort- und Gedankenfäden Unterschlupf gewährten.

Berühmt wurde Kossaks Aufsatz bekanntlich nur deshalb, weil sein Autor am Tag der Veröffentlichung (in der F.A.Z.) mit abgetrenntem Kopf auf der Insel Juist, unweit des Hammersees gefunden wurde.

Eigenbleu, der seit gut zwei Jahrzehnten auf der friesischen Insel lebte, war dagegen – und ist es bis heute – verschwunden.

Betsy Schwindelig (ebenfalls F.A.Z.) begab sich, nachdem der ungelöste Fall vom niedersächsischen Landeskriminalamt nach einem Jahr zu den Akten gelegt worden war, auf Spurensuche und entdeckte im Nachlass des Toten einen Brief an einen gewissen Fray Biberach. Dieser hatte als Wanderprediger in Ecuador, Peru und Kolumbien die Bewegung „La segunda puesta del sol“ (zu Deutsch: Der zweite Sonnenaufgang) gegründet. Nachdem er allerdings Schwierigkeiten mit der kolumbianischen Regierung, die wiederum auf Schwierigkeiten mit der FARC zurückzuführen waren, bekam, wanderte er nach Florida aus, wo er einen privaten Radiosender betrieb, der vierundzwanzig Stunden am Tag Salsa Musik sendete, sowie ausgesuchte Predigten des Frays in Englisch, Spanisch und Quechua.

Wie Kossak den Fray kennengelernt hatte konnte Betsy Schwindelig nicht herausfinden. Als gesichert gilt jedoch, dass sie sich einmal in Caracas und ein weiteres Mal auf Curacao getroffen hatten. Bei den Treffen sei es um einen jungen bolivianischen Schriftsteller gegangen, dem aufgrund seiner sexuellen Orientierung Publikationsverbot auferlegt worden war und der nun hoffte, durch Veröffentlichung seiner Texte in Europa nicht nur auf seine, sondern auf die prekäre Situation vieler junger Autoren seines und anderer südamerikanischen Länder aufmerksam machen zu können, die nicht das Glück hatten, in der Bugwelle eines Bolano oder Skarmeta wenigstens ein klein wenig in den Genuss rudimentärer Aufmerksamkeit zu kommen. Tatsächlich hatte Kossak in einem Artikel über Brasilien als den großen Verlierer unter den Gewinnern der dritten Welt, bolivianische Transgender-Literatur in einem Nebensatz erwähnt, allerdings ohne Namen zu nennen. Fray Biberach empfand dies als Verrat an der gemeinsamen Sache und versprach Kossak ein besonders heißes Plätzchen auf dem Grill des „Diavolo“.

Betsy Schwindeligs Artikel über Kossak und den Fray erschien am elften März letzten Jahres. Unter der Onlineausgabe des Textes wurde zwei Tage später ein Kommentar mit der Überschrift: „Kopflos in Seattle“ gepostet, in dem der Schreiber darauf hinwies, dass der Fray unter dem Namen ‚The Second George‘ in Vancouver ein florierendes Sektenunternehmen betriebe, welches unter anderem für teures Geld den Zeugen Jehovas die Türklingelrechte für Kanada und die USA abgekauft hätte und nun mit Mann und Maus einen Missionierungsfeldzug betrieb, der sich mittlerweile über den ganzen nordamerikanischen Kontinent erstreckte. Und es wäre bestimmt keine große Dreistigkeit, so der namenlose Kommentarschreiber, davon auszugehen, dass Kossak sich vor längerem schon dieser Bewegung angeschlossen hatte, aber aufgrund der internen Entwicklung, weg von der pseudomarxistischen Erweckungstheologie hin zu einem quasiliberalen, sprich sehr marktaffinen Protestantismus, gezwungen sah, den Ausstieg zu wagen. Eine Entscheidung, die er offensichtlich mit dem Leben bezahlt hätte.

Da der Fray über hinlängliche Kontakte verfügt, auch zu den deutschen Medien, ist das Schweigen, das sowohl auf Betsy Schwindeligs Artikel, wie auch dem Leserbrief folgte, selbstredend.

Gerüchte behaupten, Eingenbleu sei in Emden, seiner Heimatstadt, in einer Kirche gesehen worden, wie er zwei Kerzen anzündete und dann im Beichtstuhl verschwand. Kossak hatte in seinem Essay über den Künstler unter anderem geschlussfolgert, dieser sei ein manischer Onanist, dem die Worte in ähnlich unkontrollierbarer Konvulsivität aus der Feder spritzten, wie das Ejakulat aus seinem von Internetpornos hoffnungslos überreizten Schwanz. Und überhaupt sei sein Lebensabscheu nichts weiter, als eine gespreizte Attitüde, die er enthusiastisch pflegte, nur um am unteren Bildrand kultureller Wärmeerzeugung noch einmal eine feste Hand auf seinem faltigen Arsch zu spüren.

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