18/I/15

Im Traum der letzten Nacht stand ich wieder am Totenbett meiner Großmutter. Der Satz eines George-Jüngers fiel mir ein: „Die Toten lächeln, weil sie uns ein Geheimnis voraushaben.“

Großmutter lächelte nicht. Ihr zahnloser Mund war eingesunken, die Lippen völlig verschwunden. Die murmelrunden Augen erschienen unter den grauvioletten Lidern wie Fremdkörper, die man in leere Augenhöhlen gelegt hatte. Im Traum erinnerte ich mich daran, wie diese Augen, unterstützt vom Ritt schmaler Brauen, missbilligend und grimmig schauen konnten, wenn wir Kinder etwas angestellt hatten. Und wie sie strahlten, wenn die Geschwister und ich sie morgens im Bett überfielen und wir uns dann darum balgten, wer sich am engsten an sie herankuscheln durfte.

Davon war nun nichts mehr zu sehen. Das Totengesicht meiner Großmutter hatte mit ihr nichts mehr zu tun. Es war ein stillgelegter Bahnhof, ein für immer verlassenes Gebäude.

Plötzlich wurde mir gewahr, dass ich mich ganz alleine in jenem Raum befand, der einmal unser Kinderzimmer gewesen war, später Gästezimmer, dann Kranken- und jetzt Totenzimmer. Und im Traum erinnerte ich mich, wie ich einige Minuten zuvor meine Eltern und Geschwister gebeten hatte hinauszugehen. Ich wolle mit Großmutter nicht beten, hatte ich gesagt.

In Wirklichkeit – das wusste ich selbst im Traum – hatte es sich natürlich anders verhalten. Nachdem wir alle einige Minuten schweigend und weinend vor der Toten gestanden hatten, wandten mein Vater und mein ältester Bruder mir den Blick zu. Trauer lag darin, aber auch eine klare Aufforderung: Geh! Verschwinde und überlasse die Tote uns, damit wir ungestört über ihr beten können.

Ich gab Großmutter noch einen Kuss auf die Stirn, der Mutter einen flüchtigen auf die Wange und verließ die Wohnung.

Im Traum der letzten Nacht nun standen sie draußen vor der Tür, während ich gebetslos bei der Toten war und an die dummen Worte eines George-Jüngers dachte. Doch plötzlich bewegte sich etwas in dem eingefallenen Gesicht, ein wenig so, als würde jemand an den Seiten ganz sanft die Haut massieren. Und tatsächlich, Großmutter lächelte. Noch immer war ihr Gesicht ein Totengesicht, aber nun eines, das wahrhaftig lächelte. Ich trat an das Bett heran, beugte mich herunter und flüsterte ihr ins Ohr: „Hör‘ einfach nicht hin.“ Dann gab ich ihr den Kuss auf die Stirn, den ich ihr schon außerhalb des Traumes gegeben hatte.

Bevor ich das Zimmer verließ, drehte ich mich nochmal um. Großmutter lächelte noch immer und ich wusste, sie tat es nicht, weil sie mir ein Geheimnis voraushatte. Sie lächelte, weil nun sie und ich denen vor der Tür ein Geheimnis voraushatten. Leider gestattete der Traum mir nicht mehr, in ihre frommen Gesichter zu sehen.

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