Welches Geräusch machen Weltbilder, wenn sie zusammenbrechen? (I-III)

I

Katzen leben am längsten, wenn sie bösartig sind und dem Nachbarn gehören.

 

Glück vergisst man schnell, Scham dagegen bleibt ewig in Erinnerung. Sie konserviert ihren ätzenden Charakter über Jahrzehnte hinweg und ist stets in der gleichen Qualität abrufbar, in der man sie ursprünglich empfunden hat. Selbst dem Schmerz gelingt das nicht. Deswegen kann eine Biografie nur von Scham handeln, möchte sie wahrhaftig sein. Alles andere ist nicht vertrauenswürdig. Mehr noch – es ist unaufrichtig und verlogen. Wenn du möchtest, dass ich eine vage Vorstellung davon habe, welcher Mensch du wirklich bist, dann erzähl mir von den Momenten, in denen du dich zutiefst geschämt hast.

 

 

II

Die beste Methode eine Katastrophe zu verhindern, ist sie vorauszusagen.

 

Es muss Winter gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass die Mutter einen braunen Mantel trug und eine grobwollige Strickmütze. Mir hatte sie eine Daunenjacke überzogen, meine Füße in gefütterte Stiefel gesteckt und die Hände in plüschige Fäustlinge. Die Kapuze der Jacke umschloss meinem Kopf wie eine Trockenhaube. An wie vielen Türen wir schon geklingelt hatten, weiß ich nicht mehr. Irgendwann kamen wir an dieses Haus. Grauer Putz, Vorgarten, Jägerzaun. Mutter öffnete das Gartentörchen und wir gingen zur Haustür. Buntglas, 19*C*M*B*72, ein Mistelkranz. Das Gesicht einer alten Frau. Sie lächelte und kurz darauf redeten Mutter und sie, als kennten sie sich schon sehr lange. Anfangs beschäftigten mich die farbigen Scheiben der Tür. Dann schaute ich in Richtung des Gartens, ob dort vielleicht ein Tier zu sehen war oder ein interessantes Spielzeug. Von der Haustür aus konnte ich nicht viel erkennen und so schlich ich mich leise davon. Die von einem Blumenbeet umgebene Wiese wurde aber schnell langweilig. Ich ging zum Gartentor, und da Mutter immer noch mit dieser Frau sprach, ich aber gerne weitergehen wollte, rief ich nach ihr. Bis dahin wusste ich nicht, was man mit einem Blick alles sagen kann. Wie ein Muttergesicht, ohne dass es sich merklich veränderte, plötzlich einem anderen Menschen zu gehören schien, nur durch die Art, wie es seine Augen aufriss und den Mund leicht zur Seite schob. Das war kein Du-hast-was-angestellt-Gesicht. Dazu fehlte die gekräuselte Stirn, außerdem machte sie sonst nie solche Kulleraugen. Auf dem Weg zurück zur Haustür fing mein Kopf an zu kochen. Das Gespräch der Frauen ging unbeirrt weiter, nur der ausgestreckte Zeigefinger an Mutters Hand verriet mir, dass sie genau registrierte, was ich tat. Ich stellte mich wieder neben sie und diesmal hoffte ich, die Unterhaltung der beiden würde noch eine ganze Zeit lang dauern.

Schließlich ging die Tür zu und das Schweigen begann. Wir klingelten nirgendwo mehr, sondern begaben uns auf den Heimweg. Mutter einen halben Schritt vor mir. Ich wusste, was ich falsch gemacht hatte. Wir sprachen mit den Menschen, weil Gott das von uns erwartete. Er wollte ein Paradies aus der Erde machen, aber nur für diejenigen, die so waren wie wir. Alle andern würden sterben. Das mussten wir ihnen erzählen. Auch wir Kinder. Indem wir neben unseren Eltern standen und brav zuhörten. Oder dem Menschen an der Tür ein Faltblatt in die Hand drückten. Mein älterer Bruder las manchmal Texte aus der Bibel vor. Das konnte ich noch nicht. Aber einfach dastehen konnte ich. Hatte es aber nicht getan. Ich dachte, wenn die Frau im Strafgericht stirbt, dann ist es deine Schuld. Weil du weggelaufen bist und die Mutter sich nicht mehr auf das Predigen konzentrieren konnte. Das wird die Mutter dir gleich an den Kopf werfen, dachte ich. Doch als sie sich endlich stehen blieb und sich zu mir umdrehte, hatte sie Tränen in den Augen und sagte nur: „Ich habe mich so geschämt.“

 

 

III

Gott ist ein Arzt, der die Ursache einer jeden Krankheit darin sieht, dass man ihn nicht rechtzeitig konsultiert hat.

 

Wer an den christlichen Gott glaubt, muss sich damit abfinden, dass er einem beim Wichsen zuschaut. Das lässt sich theologisch nicht wegdiskutieren. Gott ist vielleicht nicht überall, aber er sieht alles. ALLES! Onan zum Beispiel. Er soll die Schwagerehe vollziehen, hat aber keine Lust irgendwelche Bastarde in die Welt zu setzen, die seinen bisherigen Kindern das Erbe streitig machen. Also zieht er ihn vor der Explosion raus, was Jahwe gar nicht gefällt. Er bringt Onan um und sorgt nebenbei noch für einen falschen Fachbegriff. Ein Irrer namens Kellog wird Jahrhunderte später die Beschneidung von kleinen Jungs befürworten, damit ihnen der Spaß am Masturbieren vergeht. Gott nickt zufrieden. Der erste CEO des Christentums, Paulus, bläst in das gleiche Horn. Zwar macht er sich mit dem Thema Selbstbefriedigung nicht die Finger schmutzig, aber in alle seine Briefe ist Lustfeindlichkeit und Abscheu vor jeder Art diesseitiger Sinnlichkeit fest eingewebt. Als habe man nur die Eier von Jesus ans Kreuz genagelt. Und darunter die Vagina von Maria Magdalena.

Während Ende der siebziger Jahre in jedem Tatort mindesten ein paar blanke Titten zu sehen sind, weiß ich nicht, wohin mit dem Druck im Unterleib. Eine Bravo schafft endlich Abhilfe. Der glühende Mulch steht noch bravurös, da läuten im Himmel die Alarmglocken. Zeigefinger marschieren auf und ich verdecke reuevoll das Gesudel. Ein Pingpongspiel beginnt. Für jeden handgemachten Orgasmus spiele ich ein demütiges Gebet über das Netz. Gott retourniert mit einem Nie-wieder. Im Laufe der Zeit werden meine Aufschläge schwächer, während seine Returns an Schärfe zunehmen. Schließlich werfe ich den Schläger auf die Platte und greife zum letzten Mittel. Ich mache einen heiligen Schwur, einen, dessen Bruch mir die ewige Verdammnis einbrächte. Das ist jetzt mehr als Tischtennis, das hat infernale Wucht. Ungefähr ein Jahr gelingt es mir, mich mit meinen Träumen zu begnügen. Ich magere ab und habe lila Augenringe. Längst kann ich zwischen Gott und Satan keinen Unterschied mehr ausmachen. Sie sind zwei sich bekriegende Rabauken und ich stehe genau in der Mitte. Jeder zieht an mir so fest er kann. Das tut derart weh, dass ich mir denke, ein wenig Spaß könne nicht schaden. Also lasse ich meinen kleinen Narren seine ersehnte Prunksitzung abhalten. Danach kotze ich auf den Flokati vor meinem Bett.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert