Welches Geräusch machen Weltbilder, wenn sie zusammenbrechen? (VI-VII)

VI

Kinder haben Albträume, weil sie erwachsen werden müssen. Erwachsene haben Albträume, weil sie einmal Kinder waren.

 

Die natürlichen Feinde der Pubertät: Gott, Lehrer und Hosen mit Bügelfalten. Genau die kauft mir meine Mutter, obwohl ich um eine Jeans bettele. Sie beschwatz mich solange, bis ich glaube, was da so militärisch akkurat meine Beine umgibt, sei auch nur annähernd cool. Auf dem Weg zum Stadtpark, wo ich mich mit meinen Freunden treffe, wird mir mein Irrtum bewusst. Aber es ist zu spät. Ich hoffe, dass es vielleicht doch besser aussieht als es sich anfühlt. Dann sehe ich die Blicke meiner Freunde und weiß, es sieht noch viel schlimmer aus. An diesem Tag bleibe ich nicht lange, obwohl ich meine Ausgehzeit sonst bis zur letzten Sekunde auskoste. Zu Hause angekommen, schmeiße ich die Hose in die Ecke. Nach dem Abendessen starte ich meine erste Revolution. Eine Jeans wollte ich, sage ich den Eltern, die Mühe haben, ihren Blick von dem erst kürzlich erstandenen Farbfernsehgerät abzuwenden. Der Vater schaut nur kurz auf, in seinem Gesicht noch immer der ganze Arbeitstag und der Wunsch nach Ruhe. Dennoch wird er von der Mutter gefordert, die keine eigene Entscheidung in einer so wichtigen Sache treffen möchte. Bevor ein Wort aus dem Ohrensessel kommt, feuere ich mein stärkstes Argument. Der ältere Bruder hätte doch auch. Vater stemmt sich aus dem Fauteuil und wirft fragende Blicke auf die Mutter. In dessen Größe, sagt sie, gäbe es ja nichts mehr anderes. Außerdem sei er pflegeleicht dieser Jeansstoff und reibe sich im Schritt nicht so schnell durch.

Dann kauf dem Jungen doch auch, um Himmels willen.

Hatte ich sowieso vor. Wir fahren morgen dafür in die Stadt.

Der letzte Satz reichte mir, um gut einzuschlafen. Allerdings erwachte ich mitten in der Nacht und bis zum Morgen hielt mich die Frage wach, ob Mutter statt einer engen Hose mit weitem Schlag, mir einen von diesen blauen Palomino-Fetzen vom C&A zu kaufen beabsichtigte, die an einem herumflatterten wie Sträflingskleidung.

 

 

 

VII

Die Vergangenheit ist eine alte Diva, die jedem zuraunt: „Einst nannten sie mich Zukunft.“

 

Tlön:      Welche Erinnerungen verbinden Sie mit Ihrer Schulzeit? Fangen wir mit der Grundschule an.

Sam:  Als wir bei der Einschulung in den Klassenraum kamen, stand auf den Tischen für jeden Schüler einen Namensschild. Da sah ich zum ersten Mal meinen Namen geschrieben. Neben mir saß ein mondköpfiger Junge mit riesigen blauen Augen und einer Topfdeckelfrisur. Wir wurden Freunde bis zum dem Tag, an dem er mich zu seinem Geburtstag einlud.

Tlön:      Wieso? Was war passiert?

Sam:     Es war Pause und ich stand auf dem Schulhof. Er kam und drückte mir eine Einladungskarte in die Hand. Ich gab sie ihm zurück und sagte, ich feiere keinen Geburtstag und würde nicht kommen. Er war so erstaunt, dass er nicht einmal nach dem Warum fragte. Am nächsten Tag bat er unsere Klassenlehrerin, sich neben einen anderen Schüler setzen zu dürfen.

Tlön:      Wieso feierten Sie keinen Geburtstag?

Sam:      Ich habe es nie wirklich verstanden. Es hieß, Gott gefalle es nicht, wenn sich ein Mensch so in den Mittelpunkt stellt. Zudem werden in der Bibel nur zwei Geburtstagsfeiern erwähnt, die allerdings von Heiden veranstaltet wurden und jedes Mal kam dabei ein Mensch zu Tode. Daraus schloss man, das Feiern von Geburtstagen sei für einen Christen nicht akzeptabel. Als Kind können sie eine solche Argumentation natürlich nicht nachvollziehen. Sie sehen nur, dass ihre Mitschüler ein schönes Lied vorgesungen bekommen, an diesem Tag keine Hausaufgaben machen müssen und in ihrem Zuhause eine schöne Feier für sie veranstaltet wird. An dem eigenen Geburtstag aber passiert nichts. Beim Mittagessen sagt die Mutter vielleicht: „Hach, um diese Zeit lag ich schon im Kreissaal.“

Tlön:      Es wurde also schon registriert?

Sam:      Registriert ja, aber eben nicht gefeiert. Dafür beschenkten wir uns gegenseitig am Hochzeitstag meiner Eltern.

Tlön:      Das war erlaubt?

Sam:      Das war nicht verboten.

Tlön:      Zurück zur Schulzeit. Wie reagierten die Lehrer auf Ihre Andersartigkeit?

Sam:      Meine Klassenlehrerein war eine feine Frau, im Alter irgendwo zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter. Sie wusste um den Glauben meiner Familie und nahm darauf stets Rücksicht. Sie akzeptierte, dass ich in der Adventszeit keine Kerze mitbrachte, anstatt Weihnachtsmänner oder Osterhasen, Bäume und Blumen malte, und beim Morgengebet zwar brav aufstand, aber den an die Tafel geschrieben Text nicht mit aufsagte. Nur einmal brachte sie mich in Verlegenheit. Am Nikolaustag verteilte ein bartbeklebter und in rotes Sacktuch gekleideter Lehrer kleine Tüten mit Süßigkeiten an die Grundschüler. Das geschah in der ersten Schulstunde, weshalb meine Eltern entschieden, ich sollte erst zur zweiten Stunde in die Schule gehen. Als ich das Klassenzimmer betrat, schallte mir ein großes Gelächter entgegen. Ich hätte den Nikolaus verpasst und überhaupt, wie könne man an einem solchen Tag verschlafen. Die Lehrerin sagte: „Sam, auch wenn du zu spät bist, hat der Nikolaus dir trotzdem etwas da gelassen“, und drückte mir eine der Tüten in die Hand. Ich stellte sie unter meinen Tisch und verbrachte den Rest des Schultages damit mir zu überlegen, ob ich dieses Geschenk nun behalten sollte oder nicht. Gott, das wusste ich, mochte weder Weihnachten noch den Nikolaus. Das war alles heidnisches Brauchtum und nur falsche Religionen gaben sich solchen Dingen hin. Mir war bewusst, dass ich diese Tüte hätte gar nicht erst annehmen dürfen. Während meine Klassenkameraden in den Pausen unbeschwert naschten, wagte ich nicht, das Objekt der Begierde überhaupt anzusehen. Aber was sollte ich machen? Am liebsten hätte ich so getan, als wäre all das gar nicht passiert, aber ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie der Klassenspott mich ein zweites Mal überrollen würde, stünde die Tüte am nächsten Tag noch immer unberührt unter meinem Tisch. Also nahm ich sie nach Schulschluss mit, warf sie auf dem Heimweg irgendwo in die Büsche und lief erleichtert nach Hause.

Tlön:      Erleichtert?

Sam:      Traurig erleichtert. Wie das so ist, wenn man Versuchungen widersteht. Das Gefühl, das Richtige zu tun hält sich mit dem, etwas dabei zu verpassen ungefähr die Waage.

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