IV
Alle unglücklichen Familien gleichen einander, jede glückliche Familie ist auf ihre eigene Art glücklich.
Die bestimmende Zahl meiner Kindheit war die Fünf. Um fünf Uhr nachmittags musste ich zu Hause sein, fünf Gottesdienste besuchte ich jede Woche, die Abenteuer der fünf Freunde waren meine Lieblingsgeschichten, die Weltuntergangsuhr stand immer auf fünf vor Zwölf, fünf törichte Jungfrauen verpassten die Hochzeit des HERRN, an fünf Tagen in der Woche musste ich zur Schule. Meine Lieblingszahl dagegen war die Vierzehn. Die kam nirgendwo vor, außer in meiner Fantasie. Es gab einen Gott, der am Anfang zwei Menschen erschuf. Drei Tage war Christus im Grab und Engel standen an den vier Ecken der Erde, um den Sturmwind des göttlichen Zornes zurückzuhalten. An sechs Tagen schuf Gott die Welt und am siebten ruhte er. Acht Menschen fanden Platz in der Arche, neun Früchte des Heiligen Geistes galt es hervorzubringen, zehn Gebote zu halten. Elf Jünger waren Jesus treu geblieben und zwölf Tore hatte das himmlische Jerusalem. Die dreizehn war ein abergläubischer Eindringling, dem ein dämonischer Schrecken anhaftete. Die Vierzehn dagegen bedeutete nichts, war schwerelos und so geräumig, dass all meine Träume darin Platz fanden. Mit einem Tennisschläger Gitarre spielend gründete ich meine erste imaginäre Band: The Fourteen Crimes.
Die böseste aller Zahlen dagegen: 666. Wo immer sie auftauchte, war der Teufel nicht weit. Noch als Erwachsener jagte es mir einen Schauer durch den Leib, wenn ich nachts aufwachte und der Wecker 3:33 Uhr anzeigte. Im Rechnen war ich nie gut gewesen, aber die apokalyptische Mathematik hatte ich perfekt verinnerlicht. Den Zahlen wohnte entweder Segen oder Fluch inne, Gott hatte sie über die Welt verstreut, um seinen unumstößlichen Willen kundzutun. Und um die Gläubigen zu verwirren, tat der Satan es ihm nach.
Meine Vierzehn war davon völlig unbeleckt. Sie war die Zahl, in der ich leben wollte, mein bester Freund und mein Tröster, wenn die biblische Arithmetik mein Gemüt zerrupfte. Die Vierzehn war frei von jedem Urteil und in ihr empfand ich mich sicher vor jeglichem Richterspruch. Unter dem Zeichen der Vierzehn rauchte ich meine erste Zigarette, las verbotene Bücher, befummelte mich oder meine Freundinnen. Trotzdem habe ich sie am Ende verraten und mich den fetten, von Gott und Teufel geschwängerten Zahlen ergeben.
Jetzt, wo all diese dumm Magie verraucht ist, lacht mich die Vierzehn aus. Ich habe sie für alle Zeiten verloren und das nicht nur, weil sie auf junge Herzen steht. Mir bleiben nur ihre spöttischen Kommentare, wenn ich mit einer Einundfünfzig ins Bett gehe.
V
Der Dumme redet, der Kluge schweigt; der Feige aber beißt sich ständig auf die Lippen.
Nichts ist von Dauer. Was immer mir begegnet, ist vom Schimmel der Kurzfristigkeit befallen. Der Freund, mit dem ich mich treffe sobald die Hausaufgaben erledigt sind, wird bald sterben, das Buch, das ich lese bald in Flammen aufgehen, meine Lehrerin bald bei lebendigem Leibe verwesen. Die Welt ist eine Mülltonne, die nur darauf wartet, geleert zu werden. Und ich sitze auf ihrem Deckel und frage mich, ob ich ebenfalls abgeholt werde. Ich lebe in dem Roman eines Zukunftslosen. Einem Roman, der niemals geschrieben wird, denn auch dafür bräuchte es einen Raum, der sich so weit ausstreckt, dass seine Grenzen nicht zu erkennen sind. Mir aber steht das Ende stets vor Augen. Man ist ja niemals das dumme Kind, für das einen alle halten und die Gespräche der Erwachsenen hämmern dir ewige Bilder in den Kopf. Das Kind kommt nicht mehr in die Schule, sagen sie. Später: Das Kind kommt nicht mehr aus der Schule. Danach: Lass das Kind ein sauberes Handwerk lernen, damit kann man in der Neuen Welt etwas anfangen.
Wo auch immer sich das Kind befindet, es ist ständig auf der Durchreise. Das Ziel ist unerreichbar, aber alle sagen, man stünde direkt davor. Und weil das Kind daran glaubt, fällt es von einer letzten Stunde in die nächste. Bis es schließlich, fast erwachsen schon, den Köder geschluckt hat und sich selbst nur noch in Paradiesfantasien wiederfindet und dem Diesseits völlig entsagt.