Zehn Menschen

1

Wahrscheinlich ist seine Freundlichkeit nur ein Ablenkungsmanöver. Buntes Geschenkpapier, mit dem er einen leeren Karton umwickelt. Wenn er jemandem beim Umzug hilft, bei einer Party den ganzen Abend am Grill steht, wenn er einem Bekannten Geld leiht oder einen Kollegen zum Flughafen bringt: all diese vorbehaltlose Bereitwilligkeit, bloß um niemanden merken zu lassen, dass er die meiste Zeit nur an sich selbst denkt und keinen Menschen wirklich mag.

 

2

Seine dritte Frau verließ ihn aus den gleichen Gründen wie die beiden davor. Und weil sie entdeckte, dass er täglich ins Waschbecken des Gästeklos onanierte. Mittlerweile gewohnt verlassen zu werden, nahm er es hin und genoss das Alleinsein. Dann wurde er vierzig und bekam immer mehr Lust junge Mädchen zu vögeln. Also begann er sich gesund zu ernähren, ging jeden zweiten Tag in ein Fitnessstudio, anschließend ins Solarium, spielte Tennis und fuhr Fahrrad. Er rasierte sich eine Glatze, die er jeden Morgen polierte, rasierte Brust-, Achsel- und Schamhaare, rieb sich täglich mit Stutenmilch ein und ließ sich einmal die Woche die Fingernägel maniküren. Die halbseitige Lähmung, verursacht durch einen Schlaganfall kurz vor seinem sechsundvierzigsten Geburtstag, empfand er in erster Linie als Demütigung. Bis zu seinem Tod in Folge weiterer Hirninfarkte vier Jahre später, beschäftigte er sich ausschließlich mit esoterischer Literatur.

 

3

Jeden Morgen hat sie das Gefühl, es sei nicht ihr Gesicht, das da im Spiegel auftaucht. Ein Gesicht wie eine Schlagzeile, aufgedunsen und vordergründig. Früher hatte ich ein anderes Gesicht, denkt sie, ein Gesicht, das wie der Anfang einer guten Geschichte war. Nach diesem Gesicht sehnt sie sich. Dieses Gesicht hätte wieder etwas mit ihr zu tun. Mit diesem Gesicht würde es ihr viel leichter fallen, sich selbst gegenüber zu treten. Das fremde Gesicht aber am Morgen schreckt sie ab und lässt sie befürchten, vielleicht doch nie ein anderes Gesicht gehabt zu haben.

 

4

Nachts fährt er U-Bahn. Er steigt ein, setzt sich in Fahrtrichtung an einen Fensterplatz, schlägt die Beine übereinander und schaut auf vorbeiflitzende Betonwände und Kabelkanäle. Fährt die Bahn in eine Haltestelle ein, schließt er die Augen bis der Zug die Station wieder verlassen hat. Setzt sich jemand ihm gegenüber, sieht er nur kurz auf und starrt dann wieder durch sein eigenes Spiegelbild hindurch. Lässt sich jemand direkt neben ihm nieder, steht er auf und wechselte den Platz. Ist der Wagon, in dem er sich befindet, ganz leer, streckt er die Beine von sich, breitet die Arme über der Rückenlehne aus und seufzt laut und zufrieden, während er lächelnd seine Blicke überall umherschweifen lässt.

 

5

Als ihr Zwillingsbruder starb, verweigerte sie für mehrere Tage das Essen. Neben dem Appetit, der schließlich wiederkam, verlor sie auch ihren Geschmack. Wenn jemand, den man so geliebt hat, für immer geht, pflegte sie zu sagen, dann ist es völlig normal, dass er etwas von einem mitnimmt. So betrachtete sie ihre Geschmacklosigkeit als Abschiedsgeschenk von und an ihren Bruder. Zwei Jahre später machte sie ihr Abitur und begann zu studieren. Die Präsenz des Verstorbenen in Form der Unfähigkeit zu schmecken zerstörte die meisten ihrer Beziehungen, da keiner der jungen Männer ihr so nahe kommen konnte wie der toter Bruder, der ihr ja direkt auf der Zunge saß. Auch dem Mann, den sie einige Zeit nach ihrem Studienabschluss heiratete, gelang das nicht und er verließ sie nach wenigen Ehejahren. Bei einer ärztlichen Routineuntersuchung kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag, ergab das Blutbild unter anderem einen starken Zinkmangel, der durch ein wenig teures, rezeptfreies Präparat wieder ausgeglichen wurde. Keine vierundzwanzig Stunden nachdem sie die Medizin das erste Mal genommen hatte, war ihr Geschmackssinn wieder vollständig hergestellt.

 

6

Er hält sich für einen Philosophen, nur weil er ständig verzweifelt ist. Wenn man so ausschließlich verzweifelt ist, denkt er, dann ist die Verzweiflung eine wirklich große Sache. Tagtäglich reitet er auf seiner Verzweiflung aus und erlebt die Welt im Auf und Ab ihres gleichmäßigen Trabes. Irgendwann schreibt er auf, was er alles über seine Verzweiflung herausgefunden hat. Dabei stellt er fest, dass all seine Überlegungen unnütz und sinnlos gewesen sind, weil er die ganze Zeit ein Gefühl für einen Gedanken gehalten hat – und verzweifelt.

 

7

Jetzt fährt er schon seit zwanzig Jahren mit der gleichen Bahnlinie zur Arbeit und doch sieht er jeden Tag neue Gesichter. Der Vorrat der Stadt an Gesichtern scheint unerschöpflich zu sein. Er fragt sich, wie das wohl wäre, wenn man die Gesichter aller Menschen auf dieser Welt schon einmal gesehen hätte. Mit einer solchen Anzahl an gesehenen Gesichtern müsste einem doch alles möglich sein. Er könnte Generalsekretär der UNO werden. Er wäre ja sozusagen per Du mit der ganzen Menschheit. Selbstzufrieden kaut er auf diesem Gedanken ein paar Tage herum, bis er zu der Überzeugung gelangt, alle Gesichter der Menschheit wolle er gar nicht sehen. Das würde ihm bestimmt sehr schnell zu langweilig. Und außerdem suche er ja morgens in der Bahn nicht nach neuen Gesichtern, sondern nach denen, die er schon kannte.

 

 

8

Sie wünscht, ihr Leben wäre wie jene Träume, in denen man vorher schon weiß, was passiert. Egal was kommt, sie will sich darauf vorbereiten können. Bereits als Kind kam ihr ein plötzlicher Tod grausamer vor, als ein Sterben, das sich ankündigte. Überrascht zu werden, das hieß die Souveränität zu verlieren, sich selbst aus der Hand zu geben. Überhaupt verstand sie ihre Träume immer besser, je älter sie wurde. So wie den der letzten Nacht, als sie träumte, sie wäre in einem Bus zusammen mit dieser bekannten Nachrichtensprecherin, von der sie aufgefordert wurde ihr eine Pistole zu bringen, die irgendwo auf dem Boden lag. Ihr war klar, dass diese Frau sie erschießen würde. Um ihr Leben bettelnd hob sie die Waffe dennoch auf und gab sie der Frau, die ihr sofort damit ins Gesicht schoss.

 

9

Der Parkplatz ist zunächst nur Plan B. Plan A, das ist ein junger Mann, der akzeptierte, dass er sich in einem nicht aufzulösenden Gewirr von Verpflichtungen seiner Frau, seinen Kindern und seiner gehoben gesellschaftlichen Stellung gegenüber befindet. Der ihm stundenweise jene Erleichterung verschaffen würde, die er braucht, um sich in diesem Gewebe nicht hoffnungslos zu verirren. Um durchhalten zu können, bis die Dinge sich grundlegend änderten. Dass er einen solchen jungen Mann niemals trifft, liegt an seiner Angst vor Zurückweisung und weil er sich nicht traut, die einschlägigen Bars seiner Stadt auf zu suchen. Durch das Internet erfährt er von diesem Autobahnparkplatz, etwas außerhalb der Stadt. Lange zögert er. Irgendwann aber lässt er sich an einem Morgen sehr früh abholen und den Chauffeur jenen Parklatz ansteuern. Vier Fahrzeuge stehen verteilt über die Parkfläche. In dreien haben zwei oder mehr Männer Sex. In dem vierten befindet sich nur eine Person. Er klopft an die Scheibe des Wagens und ein junger Mann öffnet die Beifahrertür. Dieser arbeitet bei einer Autobahntankstelle in der Nähe und war auf der Heimfahrt von seiner Nachtschicht hinterm Steuer schon ein paar Mal kurz eingenickt. Daraufhin hatte er unbedacht den Parkplatz angefahren, um ein wenig zu schlafen.

 

10

Das Gesicht ihres Mannes war ein Sumpf. Alles versank darin. Sie mochte sich mit ihrem Blick gar nicht mehr hineinwagen in dieses Gesicht. Was auch immer sie sagte oder tat, es bewirkte nichts als das kurze Auseinandergleiten seines Wangenfleisches, welches sofort wieder an seinen Platz zurücksuppte. Das war’s dann. Eine Ausgeburt an Gleichgültigkeit dieses sumpfige Gesicht. Früher hatte sie in diesem Gesicht gelesen. Ja, denkt sie, gelesen wie in einem Kochbuch. Um die richtigen Zutaten zu finden für sein Glück. Sein Glück, ihr Glück, das war für sie ja immer das gleiche gewesen. Für viele Jahre zumindest. Bis dieses Gesicht versumpfte, als hätten diese Jahre es ständig überschwemmt. Am Ende war es noch ihre Schuld. Frauen lieben immer zu sehr. Vielleicht sollte sie versuchen, sein Gesicht wieder trocken zu legen. Und wie bitteschön? Abnehmen, eine andere Frisur, gemeinsamer Urlaub in der Südsee? Auch das würde in seinem Gesicht versinken wie alles andere. Das einzige, was diesem Gesicht noch helfen kann ist meine Faust, denkt sie eines Tages. Doch statt des erwarteten Schmerzes, als ihre Hand die Nase ihres Mannes trifft, spürt sie wie sein Gesicht auseinander weicht, wie zunächst ihr Arm, schließlich ihr ganzer Körper in dieses Gesicht hineingezogen wird. Dann ist alles dunkel und das Leben geht weiter.

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