02/VII/14

Gestern erhielt ich einen Brief von einer früh verstorbenen Klassenkameradin:

 

Lieber T.,

du wirst dich wahrscheinlich nicht mehr an mich erinnern, aber ich habe dich nie vergessen.

In den zwei Jahren, die wir zusammen in einer Klasse waren, habe ich immer gedacht, du seist wie ich ein Außenseiter, auch wenn du alles getan hast, deine Andersartigkeit zu überspielen. Aber deine Gesten und dein Gesichtsausdruck sprachen Bände. Aufgrund deiner Religion warst du ein Sonderling, so wie ich aufgrund meiner Herkunft.

Dass du mich nie nur eines Blickes gewürdigt hast, kann ich gut verstehen. In einem Käfig zu leben heißt ja nicht automatisch, gegen Vorurteile gefeit zu sein. Dennoch hätte ich mir gewünscht, wenigsten ein einziges Mal von dir angesprochen oder sonst irgendwie beachtet zu werden. Deine Aufmerksamkeit hätte mir die Ignoranz all der anderen leichter gemacht.

Aber natürlich warst du zu sehr damit beschäftigt, vom Klassenrand wegzukommen. Ob es dazu nötig war, in den Spötteleien der anderen mit einzustimmen, möchte ich nicht beurteilen. Du warst ein Kind und jetzt ist es egal.

In meinen schöneren Träumen fällt dir mein plötzliches Fernbleiben auf. Du fragst dich, was aus mir geworden ist. Du nimmst deinen Schulaltlas und siehst nach, wo Anatolien liegt. Und obwohl der kleine Maßstab keinerlei Rückschlüsse auf die tatsächliche Entfernung zulässt, bekommst du ein Gefühl für die Unmöglichkeit, mal eben eine Brücke zu schlagen. Weil du selbst von Geburt an ein Brückenbauer warst, der seine Bauwerke nur selten beenden konnte.

Für dich hoffe ich, dies hat sich mittlerweile geändert. Ich habe mein viertes Kind nicht überlebt. Wenn du mir antworten möchtest, denk dir einen Brief beim Anblick einer schönen Blume oder einer verschleierten Frau.

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