Heinrich Heine in einem Brief an Ferdinand Lasalle
Adorno
Nietzsche
SS-Scharführer Griebe hatte trotz seines viehischen Berufes, er war Kommandant eines Außenlagers des KZ Mauthausen, eine nicht unsympathische Vorliebe für klassische Musik, vornehmlich Violinkonzerte von Mozart, Beethoven und Händel.
Er selbst dilettierte im Geigenspiel, wobei er peinlich darauf achtete, dass niemand im Lager mitbekam, wenn er sein Instrument hervorholte, um mit hauchzartem Strich einige kurze Notenfolgen zu spielen.
Eines Tages kam ein bekannter Geigenbauer ins Lager. Griebe gab Anweisungen, den Mann zu schonen. Einmal ließ er ihn holen, damit er sein Instrument inspiziere und die neuen Saiten aufziehe, die seine Frau ihm aus Berlin geschickt hatte. Kurz darauf traf ein berühmter Violinist mit seiner Frau und Tochter ein. Griebe beobachtete, wie sie die Rampe vom Bahnsteig heruntergingen, der hagere Mann, die ihn um fast einen Kopf überragende Frau und das Mädchen, etwa zehn oder zwölf Jahre alt, mit langen Haaren, die ihr bis zu den Kniekehlen herabhingen.
Da kam Griebe eine Idee. Zunächst rief er seinen Adjutanten und gab ihm Anweisungen. Dann schickte er nach dem Geigenbauer und auch dieser bekam Befehle, die sofort auszuführen seien. Nach drei Tagen schließlich ließ er den Musiker zu sich kommen. Der hieß Valentin Scheenspill und war einer der vielen Amsterdamer Juden, welche die letzten Transporte ins Lager gebracht hatten.
„Du spielst Geige?“, fragte Griebe.
Scheenspill nickte.
„Was kannst du spielen?“
„Alles mein Herr“, antwortete Scheenspill, „Mozart, Beethoven…“
„Händel auch?“
„Auch Händel, selbst wenn seine Violinenstücke nicht zu den bekanntesten zählen.“
Griebe gab dem Juden eine Ohrfeige.
„Belehre mich nicht! Ich will, dass du spielst. Mozart, Beethoven und Händel.“
Scheenspill verbeugte sich und sagte: „Wenn der Herr mir ein Instrument zur Verfügung stellen kann, ich habe derzeit keines.“
„Dafür“, sagte Griebe und öffnete seinen Geigenkasten, „ist gesorgt.“
Er entnahm zunächst die Violine und gab sie Scheenspill. Dann zog er den Geigenbogen hervor, hielt ihn hoch und fuhr mit den Fingern über die Bespannung.
„Das ist ein einzigartiger Bogen“, sagte Griebe, „bespannt mit einem ganz besonderen Material – dem feinen und wunderbar langen Haar eines jungen Mädchens. Ich weiß, dass Menschenhaar für einen Geigenbogen nicht taugt, aber es ist das deiner Tochter, damit wirst du doch wohl einen schönen Wohlklang erzeugen können, oder?“
Scheenspill nickte stumm, nahm den Bogen und setze die Violine ans Kinn. Dann begann er zu spielen und es klang erbärmlich. Die Töne flossen ineinander ohne klare Kontur, als schallten sie in einem Raum aus Wolle und Staub. Scheenspill versuchte lauter zu spielen, doch je mehr Druck er auf den Bogen gab, desto mehr Haare rissen oder wurden durch die Reibung versengt. Dennoch fuhr er fort, versuchte sich an Mozart dem Österreicher, an Beethoven dem Deutschen und an Händel, der solange in England lebte, jenem Land, das zwar um seine eigene Existenz kämpfte, dem aber das Schicksal der Juden völlig gleichgültig war.
Als er es nicht mehr ertragen konnte, schlug Griebe dem Juden das Instrument aus der Hand.
„Es ist abscheulich“, rief er, „abscheulich, was du aus der Musik machst! “
Scheenspill sah den Scharführer an und sagte: „Die Musik ist abscheulich. Beethoven ist abscheulich, Mozart ist abscheulich.“
Griebe nahm den Geigenbogen und versetzte dem Juden Hiebe auf Kopf und Rücken. Dann rief er seinen Adjutanten und gab Befehl, den Gefangenen erschießen zu lassen.
*
Die 1923 von Petljura angeführten Pogrome in Kiev machten Efim Kogan zum Waisen, Einzelkind, Witwer und Kinderlosen. Zusammen mit seinem Vetter Iosif beschloss er, nach Palästina zu gehen. Ihr Weg führte sie zunächst nach Odessa. Dort fanden sie einen Frachter, der sie nach Istanbul brachte. Bei dem Versuch auf einem dänischen Kutter anzuheuern, wurde Iosif erstochen. Efim versteckte sich daraufhin im Laderaum eines englischen Handelsschiffes und kam so nach Zypern. Zwei Monate später betrat er in der Nähe von Gaza das Heilige Land.
Das Kibbuz Cheftziba südlich des Sees Genezareth wurde ihm zur neuen Heimat. Die Landarbeit fiel ihm nicht schwer und innerhalb eines Jahres lernte er nicht nur hebräisch, sondern auch arabisch und englisch.
Als der jüdische Nationalfonds weiteres Land von einem in den USA lebenden Araber kaufte, kam es zu einem Aufstand der dort lebenden Fellachen. Gemäß ihrem Verständnis gehörte das Land zwar Ben Anisari und er konnte es verkaufen an wen immer er wollte, aber die Olivenbäume und auch der Brunnen waren ihr Eigentum und unveräußerlich.
Efim bekam den Auftrag, die Wasserstelle zu sichern. Was das hieße, wollte er wissen.
Die Araber vergiften den Brunnen, sobald wir daraus trinken, bekam er zur Antwort.
So bezog er, begleitet von drei Soldaten des Kibbuz, Wache. Es kamen jedoch nur Frauen aus dem nahegelegenen Bet Sche’an, die in irdenen Krügen Wasser schöpften.
Wir sollten sie daran hindern, unser Wasser zu trinken, sagte einer der Juden.
Ist es unser Wasser, fragte Efim, oder das Wasser Gottes, das für alle Menschen sprudelt?
Sie werden es vergiften, rief ein anderer.
Wir werden es verhindern, sagte Efim.
Doch einer der Männer, die so unzufrieden damit waren, dass Efim den einheimischen Frauen gestattete, aus ihrer Quelle Wasser zu schöpfen, berichtete dies nicht nur im Kibbuz, sondern auch den Verantwortlichen der Hagana und der Histadrut. Diese schickten am folgenden Tag ein gutes Dutzend bewaffneter Männer, um alle Palästinenser zu verjagen, wobei einige der Frauen erschossen wurden. Efim bekam den ausdrücklichen Befehl, nur noch die Juden aus dem Kibbuz an den Brunnen zu lassen.
Trotz der Wachen, versuchten die Bewohner von Bet Sche’an sich nachts anzuschleichen, um wenigstens einige Krüge zu füllen. Meist wurden sie verjagt, doch wann immer es Efim möglich war, ließ er sie gewähren.
Zati Dawud war früher ein Hitzkopf gewesen, nun aber versuchte er die Leute in Bet Sche’an zu beruhigen. Es muss einen Weg geben, sich mit den Juden zu einigen, sagte er.
Die Juden verachten uns, bekam er zu hören, und werden nicht mit uns reden. Wir sind wie Vieh in ihren Augen, und noch weniger als das.
Ich werde, sagte Zati, mit dem Juden sprechen, der uns das Wasser holen lässt.
Also sprach Zati mit Efim. Wir sollen wir überleben ohne Wasser, fragte er.
Wie sollen wir überleben, wenn wir vergiftet werden, bekam er zu Antwort.
Wir vergiften euch nicht. Es ist unsere Quelle, warum sollten wir unser eigenes Wasser vergiften?
Es ist, sagte Efim, nicht mehr euer, sondern unser Wasser. Wäre es noch das eurige, dann müssten wir euch darum fragen und bräuchten keine Angst zu haben, dass ihr es vergiftet. Nun aber ist es unseres und es gibt keinen Grund, warum ihr es nicht vergiften solltet.
Da es nur diesen Brunnen gibt, für Bet Sche’an und auch für eurer Kibbuz, ist es egal, wem er nun gehört. Wenn wir ihn teilen, dann gibt es keinen Grund ihn zu vergiften, außer man wolle sich selbst vergiften.
Efim nickte. Dann sagte er noch: Ich weiß, das viele von uns nicht so denken, aber mir erscheint es gut und gerecht, das Wasser zu teilen. Wann immer ich Wache habe, könnt ihr holen, soviel ihr tragen könnt. Im Gegenzug dazu versprichst du mir, das Wasser nicht zu vergiften.
Ich verspreche es, sagte Zati.
Und so kam es, dass über einige Monate hinweg sowohl die Juden aus dem Kibbuz, als auch die Bewohnen von Bet Sche’an aus dem Brunnen ihr Wasser schöpften.
Einem von Efims Leuten, ebenfalls ein ukrainischer Jude, missfiel dessen Einverständnis mit den arabischen Nachbarn und er beschwerte sich im Kibbuz. Wiederum erfuhren es auch die Führer der Hagana und der Histadrut. Sie ließen Efim von seinem Posten abholen, verhörten ihn und nachdem sie ihn einige Tage in Gewahrsam gehalten hatten, bekam er eine neue Aufgabe innerhalb des Kibbuz zugeteilt. Derjenige, der Efim verraten hatte wurde der neue Aufseher über den Brunnen und mit aller Gewalt und Brutalität vertrieb er jeden Araber, der sich auch nur in die Nähe der Wasserstelle wagte.
Kurz darauf, Efim schaufelte gerade einen Graben zur Bewässerung eines Gemüsefeldes, schlich sich Zati auf die jüdischen Felder hinaus, um mit Efim zu reden.
Sie vergiften den Brunnen, sagte er.
Wann?
Heute Nacht.
Wir müssen das verhindern, sagte Efim. Um unser und euer Willen.
Ich weiß, antwortete Zati. Ihr werdet jeden einzelnen von uns töten, stirbt auch nur ein Jude.
Ja, sagte Efim, so wird es sein.
In der Nacht legten sie sich nahe Bet Sche’an auf die Lauer. Als sie einige Männer aus dem Dorf schleichen sahen, erhoben Efim und Zati ihre Waffen.
Kehrt zurück, riefen sie, oder wir schießen.
Doch plötzlich tauchten hinter ihnen Schatten auf und bevor sie nur einen Schuss abgeben konnten, wurden sie überwältigt.
Die Juden fanden Efim am nächsten Morgen im Brunnen. Man hatte ihm ein breites Eisenrohr in den After gerammt, durch das seine Peiniger junge vergiftete Ratten geschoben hatten, auf dass diese sich zunächst an seinen Eingeweiden gütlich täten, bevor sie dort selbst eingingen. Einige der Ratten hatten noch den Weg zurück ins Freie gefunden und schwammen tot im giftigen Wasser.
Zati dagegen hing, eingenäht in einen Sack, an einem Pfahl in der Mitte des Dorfes Bet Sche‘an. Jeder hatte in der Nacht seine Schreie gehört und auch das schreckliche Fauchen der Katzen, die man mit in den Sack gegeben hatte und die, durch einige wenige Stockschläge kirre gemacht, seinen nackten Körper mit ihren Krallen zerfleischten. Als die Soldaten der Hagana das Dorf niederbrannten, nahm einer von ihnen das blutige Bündel vom Pfahl und warf es zu den anderen Toten.