2018/45

USA

Die erhoffte „Blue wave“ bei den Wahlen in den USA ist ausgeblieben. Zwar haben die Demokraten  die Mehrheit im Kongress, der Senat aber ist nach wie vor fest in der Hand der Republikaner. Gejubelt wurde trotzdem. Vor allem, weil so viele Frauen für die demokratische Partei in den Kongress einziehen werden. Das ist für sich gesehen natürlich positiv. Die größte Begeisterung, hierzulande vielleicht sogar mehr als in den USA selbst, rief die Tatsache hervor, dass unter diesen Frauen auch zwei Muslima sind. Als stelle die religiöse Orientierung automatisch eine Kompetenzbescheinigung aus. Als käme wieder etwas mehr Hoffnung in die Welt, weil eine Frau mit Kopftuch ein politisches Amt bekleidet. Ilhan Omar und Rashida Tlaib verbindet eines: Ihr Hass auf Israel. Sie unterstützen die Boykottbewegung gegen Israel und sind für die sogenannte „Ein-Staat-Lösung“ was den Nahostkonflikt betrifft. Im arabischen Narrativ heißt das, die Vernichtung des Staates Israel und die Vertreibung/Ermordung aller Juden. Man kann also davon ausgehen, dass die Hamas sich über diesen Wahlerfolg genauso gefreut hat, wie viele Deutsche aus den Kreisen der Linken und der Grünen. Das sind jene, die aus Sorge um die armen Palästinenser seit Jahrzehnten keinen Schlaf mehr bekommen. Allerdings nur, wen diese von Israel unterdrückt/ausgebeutet/ermordet werden. Was in den Flüchtlingslagern in Jordanien geschieht ist ihnen genauso egal, wie die Zustände in den Auffanglagern in Libyen. Das Leid von Moslems ist nur dann interessant, wenn man Israel als den Übeltäter ausmachen kann. Werden Politiker gewählt, die genau dieses Denken unterstützen und antisemitische Verschwörungstheorien kolportieren, dann ist das kein Erfolg für die Demokratie – auch wenn es sich um Frauen und/oder VertreterInnen von Minderheiten handelt.

Fun Fact: Dass mit Sharice Davids und Deb Haaland erstmals zwei indigene Frauen in den Kongress gewählt wurden, interessiert hierzulande weit weniger.

 

 

Lektüre

Sinn & Form – Heft 6/2018

Über diese wunderbare Literaturzeitschrift habe ich hier schon geschrieben. Mein Standpunkt hat sich seitdem auch nicht geändert. Sinn & Form ist selbst so zeitlos, wie die Literatur, die in ihr zu finden ist. Sie versteht sich nicht als Erforschungsinstrument zeitgenössischen Schreibens und ihre Ignoranz, was den Mainstream-Literaturbetrieb angeht, hat etwas sehr Sympathisches. Es ist eine positive Rückwärtsgewandtheit, weil sie die Vergangenheit nicht ruhen lässt, die nicht ruhen sollte. Natürlich geht ihr Blick auch ins Hier & Heute, meistens aber greift sie in das Bücherregal des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. So befindet sich in der neusten Ausgabe ein Aufsatz von Lorenz Jäger über Christoph Friedrich Heinle, einem völlig unbekannten Dichter, der sich gemeinsam mit seiner Freundin am 8. August 1914 das Leben nahm. Er war ein Freund von Walter Benjamin und obwohl dieser darum bemüht war, Heinle einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, scheiterten diese Versuche. Interessant an diesem jungen Mann und seiner Gefährtin ist der Grund für ihren Suizid. Sie wollten nicht alt werden, sahen im Älterwerden den natürlichen Feind eines jeden jungen Menschen, weil die Zunahme an Lebensjahren automatisch mit dem Verrat an den Idealen der Jugend einherging. Ob der Ausbruch des ersten Weltkrieges eine zusätzliche Motivation für die Selbsttötung des jungen Paares darstellte ist nicht auszumachen. Ganz auszuschließen ist es nicht, waren es doch alte Männer, die die jungen dazu aufforderten, sich dem Krieg zum Fraß vorzuwerfen. Einen größeren Verrat an der Jugend kann man sich nicht vorstellen.

 

 

Gedenktage

Der November ist ein deutscher Monat, mehr noch als der Mai, der mit der Geburt des Grundgesetztes und der Kapitulation Nazideutschlands vor den Aliierten schon einiges in die Schale wirft. Mit der Reichspogromnacht, dem Waffenstillstand 1918 und dem Fall der Mauer hat der November aber deutlich die Nase vorne. Demenentsprechend kann man besonders in diesem Monat hochrangige Politiker mit eingeübten Betroffenheitsmienen auf zahlreichen Gedenkveranstaltungen sehen. Unwillkürlich fragt man sich, ob sie eigentlich wissen, wessen sie da gedenken. Bei den Novemberpogromen setzt man ein mehr oder weniger umfassendes Wissen um die Ereignisse noch voraus, wie aber verhält es sich mit dem Ersten Weltkrieg. Kennen die Politiker, die sich medienwirksam an den Händen halten die Umstände, die zu der Barbarisierung eines ganzen Kontinentes beigetragen haben? Haben sie noch vor Augen, mit welcher Begeisterung hunderttausende von Soldaten in den Krieg zogen, als handele es sich um eine Schulhofkeilerei? Ist ihnen bewusst, dass Ressentiment und übersteigerter Nationalstolz in die Situation geführt hatten, verstärkt durch himmelschreiende Inkompetenz und Selbstüberschätzung seitens der damaligen Herrscherhäuser und Parlamente? Denken sie daran, dass der zweite Weltkrieg nur eine Fortsetzung des ersten war, weil zwar die Waffen schwiegen, aber die Zornkammern nicht entleert worden waren? Weil das Hegemonialdenken des neunzehnten Jahrhunderts noch nicht abgelegt worden war und man die Welt immer noch für ein Schachbrett hielt, auf dem man nach Gutdünken Figuren hin und her schob, immer nur den eigenen Vorteil im Blick? Weiß Frau Merkel um die Zusammenhänge zwischen dem 11. November 1918 und dem 09. November 1938? Oder sind diese Gedenkveranstaltungen für sie und ihre europäischen Amtskollegen nur Termine, die es zu absolvieren gilt, die aber keinerlei Einfluss mehr haben auf ihre Idee einer Politik, die Kriege und Pogrome zukünftig vermeidet?

Wir Deutschen sind Meister im Gedenken. Nur: Gedenken ist nicht Erinnern. Gedenken ist eine Geste, Erinnern aber ist ein Wiedererleben, ein Gegenwärtigmachen. Wer erinnert, trägt die Last der Vergangenheit. Wer gedenkt, will sich davon befreien. Meinetwegen könnte man alle Gedenktage abschaffen, wenn man dafür sorgte, dass sich alle erinnern.