Ein vertrauter Geruch strömt in ihre Nase, die Dunkelheit explodiert und plötzlich ist sie wieder in der Küche der Großmutter. Die dicke Frau rührt in einer Schüssel, ein Schweißtropfen hängt an ihrer Nase. Carla sitzt auf der Holzbank neben dem Kamin und wartet darauf, dass sie ihre Finger in den Teig tauchen darf. Der sich aufheizende Ofen knistert. Die Großmutter stellt die Schüssel auf den Tisch und klopft den Schneebesen ab. Mit dem kleinen Finger ihrer rechten Hand streift sie Teig von einer der Speichen und steckt ihn in den Mund. Für meinen Moment weiten sich ihre Augen. Carla steht auf und tritt an den Küchentisch. Erwartungsvoll starrt sie auf die süße Creme.
„Einen für Papa, einen für Mama und einen für Gott“, sagt die Großmutter, während sie aus einem der Unterschränke eine Kuchenform holt. Neben der Spüle liegt ein kleiner Butterbatzen. Den nimmt die alte Frau und fettet damit das schwarze Blech. Carlas Zeigefinger ist der Vater, Mutter der Ringfinger. Gott gehört der Daumen. Die Süße strömt von der Zunge in ihren kleinen Körper und sie fühlt sich wie jemand, dem man gerade etwas Liebes gesagt hat. Die Großmutter streicht den Teig mit einem Gummischaber in die Backform. Besorgt sieht Carla, wie sorgsam sie die Schüssel auskratzt. Noch eine Runde und noch eine, bis fast der gesamte Teig umgefüllt ist. Aber es bleibt trotzdem noch genug für ein oder zwei Fingerspitzen. Außerdem darf sie eine Seite des Schabers ablecken. Die andere hat die Großmutter schon mit ihrer weißen Zunge geputzt. Die Großmutter lächelt und auch Carla lächelt. Dann öffnet die alte Frau den Backofen. Heiße Luft schlägt ihnen entgegen und der Geruch von Metall, Kohle und verbranntem Fett.
Das Dunkel fügt sich wieder zusammen. Carla fragt sich, ob jenseits des schwarzen Tuches, das sie ihr über den Kopf gestülpt haben, ebenfalls Nacht herrscht oder der Stoff so dicht ist, dass er keinerlei Licht hindurchlässt. Sie hört Geräusche: Stimmen, das Scheppern von Töpfen, das Poltern von Transportwagen. Dazu der Geruch. Wahrscheinlich ist sie in der Bäckerei ihres Onkels, in einem der Lagerräume hinter der Backstube. Der Gedanke, man wolle sie vielleicht in einen der Öfen schieben, wie einen Laib Brot. Sie hört sich atmen und weinen. Sie würde sich jetzt gerne die Nase putzen. Aber selbst wenn sie ein Taschentuch hätte, wie sollte sie das tun mit gefesselten Händen. Mit kräftigen Atemstößen versucht sie sich den Rotz aus der Nase blasen.
Der Onkel ist ein netter Mensch. Der Bruder ihrer Mutter und so breit und lustig wie seine Schwester schmal und ernst. Wie Großmutter, nur mit Schnurbart und saurem Geruch. Ob er weiß, dass sie hier ist? Mutter weiß es bestimmt und sie wird ihren Kopf darüber schütteln. Das Kind! Ihr Vetter ist ein Rabauke, aber er lässt sich nie erwischen und kann brav buckeln wenn es eng wird. Das fehlt ihr. Wie alles, was man braucht, um seinen Kopf nicht in einen Sack gesteckt zu bekommen. Sie stellt sich vor, Paul fände sie hier. Ob er sich trauen würde, sie los zu machen? Er würde etwas dafür verlangen. An ihrem großen Zeh saugen oder sowas. Sie schüttelt sich bei dem Gedanken. Pauls älterem Bruder hatten sie die Nase abgeschnitten. Der sah aus!
Carla fragte sich, für welchen Ungehorsam sie nun bestraft wurde. Felix, ihrem kleinen Bruder, hatte sie die Butterstulle aus der Brotbüchse gestohlen und dafür einen Frosch hineingetan. Der war dann quakend im Klassenzimmer herumgehüpft. Alle Schüler lachten darüber, nur Felix weinte, weil er sich so erschrocken hatte und wohl auch auf das Brot gefreut.
Letzte Woche hatte der Vater sie angewiesen, der alten Frahalla zu helfen, die Kleider ihres Mannes und ihres Sohnes, die man im Abstand von nur drei Tagen unter die Erde gebracht hatte, ordentlich in Kartons zu verpacken. Sie mochte die Frau nicht und hatte ihren Mann und den Sohn auch nicht gemocht. Überall waren sie zu dritt aufgetaucht, die Frahalla, ihr Mann und ihr Sohn. Ob Geburt oder Beerdigung, Hochzeit oder Hinrichtung, immer kamen die drei zusammen, standen rum, ohne sich mit anderen zu unterhalten und gingen dann zurück in ihre Bruchbude von Haus. Da sie stets zusammen auftauchten und sich auch immer gleich verhielten, mochte man entweder alle drei oder man mochte alle drei nicht. Die meisten mochten sie nicht, vermutete Carla. Und nun sollte sie zur der alten Frau gehen, die jetzt ganz alleine war, die sie aber noch nie alleine gesehen hatte. Sie fürchtete, die Geister von Josh und Bübi säßen in Frahallas aschiger Küche und würden sie belästigen, sobald sie mitbekämen, wie sie half, ihre Kleider fortzutragen. Also ging sie nicht zu Frahalla und sondern spazierte im Wald herum und erzählte dem Vater am Abend, sie habe sich verlaufen.
Sie hatte einen Brief, den der Vater mit ernster Miene las und dann wütend wegwarf, aus dem Papierkorb geholt und daraus kleine Fische, Schwäne und einen Tiger gebastelt. Die wollte sie dem Vater schenken, damit er wieder lächelte, aber er rannte plötzlich durchs Haus auf der Suche nach diesem Fetzen Papier und sie steckte sich die Tiere schnell in den Mund, kaute auf ihnen herum und schluckte sie hinunter. Die Fische, die Schwäne und den Tiger.
Ach, es gibt so viel, denkt Clara und das erleichtert sie. Unschuldig bestraft zu werden war ihr schon immer grausam und auf gewisse Weise komisch vorgekommen. Komisch und peinlich, als mache man sich vor allen Leuten in die Hose. Das würde ihr nicht passieren. Sie ahnte nun, auf welche Art man sie bestrafen würde. Vor kurzem erst hatte man der Tochter eines Freundes ihres Vaters diese Strafe zugemessen und das Mädchen, Lucille hieß sie meinte Clara sich zu erinnern, war genau in ihrem Alter gewesen und hatte bestimmt ähnliche Unmöglichkeiten begangen.
Clara spürte wie ihr Herz raste. Es würde wehtun und natürlich sähe man es ihr für den Rest des Lebens an. Der Sinn einer jeden Strafe, hatte ihr die Großmutter einmal gesagt, als sie keinen Kuchen backte sondern alte Wollpullis aufdröselte, um aus dem filzigen Stoff Wintersocken zu stricken, ist die Tat nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie muss für alle Zeiten sichtbar an dem haften, der sie begangen hat. Wären wir Echsen, wäre es keine Strafe uns den Schwanz abzuschlagen. Aber ein Ohr, eine Nase, eine Hand, eine Narbe im Gesicht, eine fehlende Brust…
Sie hörte Stimmen die näher kamen, dann wurde sie gepackt und weggetragen. Das dunkle Tuch um ihren Kopf würde erst dann wieder von ihr genommen, wenn sie nicht mehr vollständig war. Was danach kam wusste sie nicht. Vielleicht würde sie doch zur alten Frahalla gehen, auch wenn die Kleider ihres Mannes und ihres Sohnes längst verpackt waren. Einfach um zu sehen, ob Josh und Bübi tatsächlich als Geister in der aschigen Küche saßen und da sie ja nicht dabei geholfen hatte ihre Sachen aus dem Haus zu tragen, wären die beiden vielleicht sogar ganz verträglich. Am Sontag dann hülfe sie der Mutter beim Kuchenbacken, selbst wenn sie dort nie vom Teig naschen durfte, zu alt war sie dafür schon, obwohl sie es sich immer wünschte und sich nicht vorstellen konnte, dass man beim Kuchenbacken jemals etwas anderes sein könnte, als ein kleiner Mensch, der naschen möchte.