Der Planet de Sade

Am 3. Epikur 2112 wurde die Besatzung der Secular von dem Bordcomputer, einem Brainberry L 700, aus dem Thermoschlaf geweckt, ungefähr drei Jahre, vier Monate und sieben Tage vor dem ursprünglich programmierten Zeitpunkt. Winston Smutje war der erste, dem dies auffiel.

„Herr KaLeu“, rief er quer durch die Schlafkapelle, „wir sind ein bisschen früh dran, finden Sie nicht?“

KaLeu Schroeder rieb sich die Augen und sah auf die Anzeige am Kopfende seiner Frostbox.

„Tatsächlich“, murmelte er. Auch die anderen schauten auf ihre Displays und sofort entstand ein lautes Durcheinander von Stimmen.

„Nicht schon wieder so ein unsinniger Missionsabbruch, nur weil sich vor über fünfzehn Jahren jemand verrechnet hat“, sagte Murphy.

„Diesen Brainberries ist nicht zu trauen“, meinte Lazarus. „Ich kenne noch die alte 300 Serie, die hat die Leute im Schlaf verkohlen lassen, nur wegen Schwankungen bei der Außentemperatur im Nanobereich.“

„Irgend so ein Walfisch ist garantiert in Schwierigkeiten und wir waren dummerweise in der Nähe“, vermutete Sikkora, während sie in ihre Hose schlüpfte.

Der KaLeu schüttelte den Kopf. „Keine Walfischroute, auf der wir unterwegs sind.“

„Dann halt eines von der Flotte“, warf Holsten in die Runde, „die haben ihre Bottiche doch nie im Griff.“

„Die Flotte“, sagte Jurgardson, „hat ihre eigenen Rettungsschiffe. Die lassen nicht zu, dass ein unbedeutendes Forschungsvessel eines ihrer Wracks aufspürt und womöglich noch untersucht.“

„Wir arbeiten immerhin im Auftrag der Regierung“, tönte der kleine Song aus der hintersten Ecke der Halle, „offizieller als wir ist niemand unterwegs in diesem Universum.“

„Dummheit kann man nicht wegschlafen, oder?“, flüsterte Knightley seinem Boxnachbarn, einem plattnasigen Chinesen, zu, der zustimmend nickte.

„O.K.“, rief der KaLeu laut. „In zehn Minuten in der Sala zum Essenfassen und anschließendem Hearing. Ich rede derweil mit Headfruit.“

 

Die Mannschaft hatte das Essen beendet und fläzte auf Silikonhalbschalen, manche redend, manche in der für erst kürzlich aus dem Thermoschlaf Erwachte typischen Apathie. Zrvankovic hatte sich als einziger einen Hörsehschlauch in den Nacken gerammt, worauf die Anderen mit gehörigem Spott losbrachen, weil jeder zu wissen meinte, was der bärbeißige Energieingenieur sich da intraspinal zuführte. Nicht, dass alle anderen das gleiche zu tun wünschten, aber sie würden es sich für einen späteren Zeitpunkt aufheben. Jetzt ging es erst einmal darum zu klären, warum sie so vorzeitig aus dem Reisekoma geholt worden waren.

KaLeu Schroeder betrat den Raum. Sein Gesicht sah unaufgeräumt aus und seine Augen bewegten sich in analoger Langsamkeit.

„Herhörn!“, rief er und wartete, bis alle sich ihm zugewandt hatten. „Hab‘ den Marmeladenkopf befragt und scheinbar ist es keine Funktionsstörung, sondern ein vorprogrammierter Modus, der dann eintritt, wenn es sich um eine unzulässige Parameterverschiebung handelt.“

„Des weiteren“, fuhr der KaLeu fort, „gibt’s ein paar technische Probleme mit der Dunkelvoltaik. Der Rotschopf meint, es könne da einen Zusammenhang geben.“

„Zusammenhang zwischen was?“ fragte Holsten.

Der KaLeu schubberte sich erst die Nase, dann sein sprossiges Kinn. „ Na zwischen der Parameterverschiebung und den Problemen mit der Dunkelvoltaik.“

„Was ist das für eine Parameterverschiebung?“, fragte Sikkora und zapfte sich noch ein Aqua con Hierba aus einem der überall im Raum verteilten Trinkfressdispensoren.

„Ein Planet“, antwortete KaLeu Schroeder.

„Ein Planet?“, kam es unisono zurück.

„Ein Planet, den es nicht gibt. Also, den es schon gibt, aber keiner kennt ihn. Er steht auf keiner der Listen.“

Jurgardson schüttelte den Kopf. „Ein Planet, den keiner kennt, der nirgendwo verzeichnet ist, auf einer der vielbefahrensten Routen im Hitchenssektor. Sind vielleicht Brainberries Flüssigkristalle geronnen?“

„Ich habe das überprüft“, sagte der KaLeu mit fester Stimme. „Wir haben diesen Planeten vor uns und er ist in keiner der Datenstrecken gespeichert. Brainberry hat alles richtig gemacht.“

KaLeu Schroeder mochte es nicht, wenn eine Unzahl von fragenden Blicken sein Gesicht heimsuchte. Aber er konnte es verstehen. Das war wirklich eine eigenartige Situation. Noch eigenartiger war natürlich das, was er ihnen jetzt noch mitzuteilen hatte.

„ Nach all den Daten, die Brainberry bisher gesammelt hat, ist dieser Planet übrigens bewohnt. Multiple Lebensformen in Stickstoff/Sauerstoffgemisch. Vielfältige Spuren von strukturellen Veränderungen, die keinem Wachstumsprozess entspringen.“

„Soll heißen?“, fragte Murphy.

„Intelligentes Leben, du Kohlenstoffruine“, erwiderte Sikkora.

„Ja, so sieht es aus“, sagte KaLeu Schroeder. „Unsere Anweisung sind in diesem Fall sehr klar. Runter auf die Kugel und nachsehen, was sich auf ihr bewegt.“

Eine geballte Ladung Widerstand schwappte in Schroeders Ohren. Er aber war schon dabei, in Gedanken die einzelnen Suchtrupps zusammenzustellen. Nur Heinz und Katsuma würden auf dem Schiff bleiben. Alle anderen sollten sich auf den Weg machen. Seitdem der Mensch angefangen hatte, den Weltraum zu erobern, war die Entdeckerlust zurückgekehrt und mit ihr die unvermeidliche Gefahr, selbiger zum Opfer zu fallen. Sie würden diesen Planeten erforschen. Ob es eine Rückkehr gäbe, wusste er nicht, aber wenn, dann könnte es durchaus sein, dass sie triumphal und von einem nicht auszumalenden Geldsegen begleitet sein würde.

 

*

 

Probulet war einer der fünf Archivare der Regierung des Hitchenssektor, denen die unangenehme Aufgabe zugefallen war, die Datenfossilien der letzten Jahrhunderte auszuwerten. Das bedeutete, 99 Prozent seiner Arbeitszeit darauf zu verwenden, die Unwiederherstellbarkeit alter und ältester Datenfragmente festzustellen. Und selbst bei denen, die er entschlüsseln konnte, war eine historische Zuordnung nicht möglich, weil durch den Aufarbeitungsprozess Quellcodes verändert wurden, die einen Hinweis auf Ursprung und zeitlich Verortung gegeben hätten.

Die Daten von der Secular bildeten eine erfreuliche Ausnahme, auch wenn sie offensichtlich schon das gigahistorische Alter von über tausend Jahren hatten. Nur ein Zufall – Zufälle dieser Art, das wusste Probulet genau, kamen hin und wieder vor, sehr selten zwar, aber sie schienen eine Art brownscher Bewegung auf der universellen Kontingenz zu sein, überall dort, wo Leben wimmelte, traten sie auf und schienen nichts anders im Schilde zu führen, als Verwirrung zu stiften, obwohl ein solches Stiften niemals in seinem Sinne liegen konnte, weil es gerade diesen in allererster Linie entbehrte – hatte ihre digitale Frische erhalten, weil ein damals verwendetes Program, das sich eigentlich nur in einer Testphase befand, in seiner Grundstruktur genau der Basis entsprach, die man zwei oder drei Generationen vor Probulets Geburt als datentechnische Revolution gefeiert hatte und die nun sämtliche Konfigurationen cybertechnischer Gerätschaften bestimmte.

Probulet las aus den Daten heraus, dass die Secular angehalten und zu einem Planeten geleitet worden war, den keine der damals bekannten Sternenkarten verzeichnete. Zudem zeigten alle Bordsysteme an, dass sich auf diesem Planeten Leben befinde. Der Kommandant des Schiffes ordnete an, eine Expedition auf den Planeten zu schicken, die allerdings niemals zurückkehrte. Nur zwei Besatzungsmitglieder bleiben an Bord, von denen eines sich ebenfalls auf den Planeten begab und nach drei Wochen als zutiefst verschreckte und unheilbar traumatisierte Person zurückkehrte. Die Monate der Rückreise nutzte der Bordcomputer Brainberry, die Erlebnisse des Patienten zu analysieren.

Was Probulet zu lesen bekam, erschütterte ihn zutiefst. Und da er einer der wenigen Menschen war, die eine historophilosophische Ausbildung genossen hatten, erkannte er in den Berichten von der Secular ein uraltes Muster, eines, das den frühesten Mythen entsprach. Erzählungen aus der Zeit vor der Zeit, und auch wenn er wusste, dass besagter Planet nur kurz nach der Ankunft der Secular durch mehrere Asteroideneinschläge unbewohnbar geworden war, gab er ihm einen Namen, der seinem ursprünglichen Wesen gerecht werden sollte.

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