Die Bibliothek

 Zwei Tage bevor mein Vater starb, hatte er mich noch angerufen.
„Es ist schon wieder eins weg“, sagte er aufgeregt, „und weißt du welches?“
„Nein.“
„Der Somerset. Wie ich es vorausgesehen habe.“
„Tatsächlich, der Somerset“, sagte ich in einem Tonfall, der, wie ich hoffte, meinen Vater glauben ließ, ich würde mich daran erinnern, dass er vor einiger Zeit gesagt hatte, der Somerset würde der nächste sein, der verschwindet.
„Du musst unbedingt kommen. Wir müssen reden.“
„Ich komme am Montag“, erwiderte ich.
„Montag? Das ist ja erst nächste Woche. Da kann es schon zu spät sein. Es fehlt ja nur noch eins.“
„Vater“, sagte ich laut, „wenn du nicht willst, dass dich bald alle, mich eingeschlossen, für einen Irren halten, dann hör auf damit. Es ist noch lange nicht zu spät. Du bist zwar alt, aber kerngesund.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte er, hörbar empört.
„Das soll heißen, dass zwar deine Bücher eins nach dem anderen verschwinden, dies aber kein Hinweis darauf ist, dass du auch bald verschwindest. Es sei denn du hast dir ein Ticket nach sonstwo gekauft und planst es auch zu benutzen.“
„Du bist ein Ekel, weißt du das? Und jetzt komm, verdammt! Mir läuft die Zeit davon.“

Also fuhr ich zu ihm.
„Ich hab schon alles aufgeschrieben, was du erledigen musst“, sagte er, als wir uns an den Küchentisch gesetzt hatten. Auf dem Weg hatte ich an einer Tankstelle zwei Dosen Bier gekauft, die ich jetzt öffnete. Ich überflog den Zettel. Es waren scheinbar detaillierte Anweisungen, wie seine Beerdigung zu verlaufen habe.
Als ich wieder aufsah, meinte er: „Ich hoffe, ich kann mich auf dich verlassen.“
„Natürlich kannst du dich auf mich verlassen. Und wenn es mal soweit ist, dann wird alles so gemacht, wie du es hier aufgeschrieben hast.“ Ich versuchte ruhig und gelassen zu bleiben.
Vater beugte sich über den Tisch, so dass seine knorpelige Nase fast meine Brillengläser berührte.
„Es ist bald soweit. Vielleicht morgen schon“, flüsterte er eindringlich.
„Vater“, versuchte ich es erneut, „wir waren letzte Woche beim Arzt. Er hat dich von Kopf bis Fuß untersucht. Dir fehlt nichts. Du könntest, wenn du wolltest sogar noch Kinder zeugen, hat er gesagt.“
Mein Vater machte eine abfällige Geste. „Ach dieser blöde Arzt. Hielt sich für besonders witzig. Hat doch keine Ahnung. Was weiß der denn schon von meinen Büchern. Außerdem, wie soll dieser Doktor etwas verstehen, was noch nicht mal mein eigen Fleisch und Blut versteht?“
„Was verstehen?“, fragte ich, „dass deine Bücher dich umbringen wollen?“
„Pah“, rief der Alte, „du bist ein widerlicher Ignorant. Es sind nicht die Bücher, die mich umbringen werden. Im Gegenteil. Die Bücher haben mich bisher am Leben erhalten. Es ist ihr Verschwinden, was mich töten wird.“

Dass meinem Vater nach und nach die Bücher seiner umfangreichen Bibliothek abhanden kamen war wirklich ein Rätsel. Angefangen hatte es kurz nach dem Tod meiner Mutter. Zunächst dachte ich, er hätte sie verlegt. Bestürzt zeigte er mir die Lücken in seinen Bücherregalen. Aber obwohl wir das ganze Haus auf den Kopf stellten, waren sie nicht aufzufinden. Mein Vater verdächtigte die Putzfrau und entließ sie. Von da an machte ich jeden Montag bei ihm sauber. Dennoch verschwanden immer wieder Bücher. Manchmal nur eins, manchmal mehrere. Die Intervalle waren unterschiedlich. Aber wenigstens einmal im Monat bekam ich einen Anruf von meinem Vater, indem er den weiteren Verlust eines Buches beklagte. Ich konnte es mir nicht anders erklären, als dass mein Vater, obwohl er geistig noch voll auf der Höhe erschien, an einer gewissen Form von Demenz litt und die Bücher entweder wegwarf oder außer Haus brachte, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Einmal nahm ich mir sogar eine Woche Urlaub und beobachtete die ganze Zeit sein Haus, um zu sehen ob es nicht doch er war, der die Bücher verschwinden ließ. Aber er ging höchstens in den Supermarkt um die Ecke oder zum Bäcker. Selbst den Müll untersuchte ich, fand aber nichts. Schlussendlich sagte ich mir, dass mein Vater irgendwo im Haus ein geheimes Versteck haben musste, wo er die Bücher deponierte und ich sie spätestens nach seinem Tod finden würde.

Was meinen Vater so beunruhigte war allerdings nicht nur dass, sondern welche Bücher aus seinen Regalen verschwanden. Die erste Zeit kam es ihm sehr willkürlich vor, aber irgendwann meinte er ein System erkannt zu haben.
Eines Tages legte er mir eine Liste vor, in die er alle Titel eingetragen hatte, die ihm bis zu diesem Tag abhanden gekommen waren.
„Und?“, fragte er gespannt, als ich mir seine Aufstellung angesehen hatte, „fällt dir was auf?“
„Vater“, erwiderte ich leicht gereizt, „du weißt, ich kann mit Büchern nicht viel anfangen. Die meisten der Sachen, die da stehen kenne ich gar nicht.“
Er verdrehte die Augen und nahm das Papier wieder an sich.
„Dann kannst du es ja gar nicht verstehen.“
„Erklär’s mir halt.“
„Warum, wenn du mich gar nicht ernst nimmst.“
„Ach Vater, natürlich … komm sag schon.“
Er setzte sich neben mich und legte den Zettel vor uns auf den Tisch.
„Also hier, Buch Nummer eins – Wahlverwandtschaften von Goethe. Das war das letzte Buch, welches ich mir gekauft habe. Vorigen Sommer, als wir nach Travemünde fuhren. Erinnerst du dich?“
Tatsächlich konnte ich mich daran erinnern, dass mein Vater von mir verlangte auf dem Weg von München an die Ostsee von der Autobahn abzufahren um irgendwo einen Buchladen zu finden, weil er noch etwas zum Lesen für seinen Kuraufenthalt kaufen wollte.
„Danach“, fuhr er fort, „ Die Lücke die der Teufel lässt – und – Die Stadt der Blinden. Die beiden letzten Bücher, die deine Mutter mir geschenkt hat. zu meinem achtundsiebzigsten. Dann verschwanden vier auf einmal. Und zwar alte Bücher, aus meiner Schulzeit, wunderbare Bücher, die ich durch all die Jahre hindurchgerettet habe. Zunächst dachte ich ja, es hätte was damit zu tun, wann ich die Bücher gekauft oder bekommen hatte. Nun aber, die alten Bücher, die ich schon so lange besaß. Bis mir einfiel, dass ich alle vier vor einigen Jahren habe von einem Buchbinder neu einbinden lassen. Danach sahen sie wieder aus wie neu. Sie kamen mir auch ganz neu vor, und da habe ich sie gerade noch mal durchgelesen, zum hundersten Mal denke ich.“
„Du meinst also“, sagte ich, ein wenig erleichtert so schnell hinter das sogenannte System gekommen zu sein, „die Bücher verschwinden in der Reihenfolge, in der du sie gelesen hast?“
„Ja, das dachte ich zunächst. Aber es waren nicht alle Bücher verschwunden, die ich gelesen habe. Hier, der Grass steht noch da, der Schwanitz, der Walser, die Sonntag. Das Datum der Lektüre ist nur ein Kriterium, merkte ich. Es musste noch weitere geben.“
„Und, hast du die auch entdeckt?“
„Ja!“, sagte er triumphierend, und ich fand seine Begeisterung richtig drollig.
„Schau dir die Liste weiter an. Wir kommen langsam in die neunziger Jahre. Da gibt es Bücher, die ich neu gekauft habe und auch solche, die ich schon lange hatte und wieder gelesen habe. Manche allerdings nur stellenweise.“
„Halt, „unterbrach ich ihn, „woher weißt du, wann du welches Buch gelesen hast? Das ist mittlerweile zehn Jahre und länger her.“
Das faltige Gesicht meines Vaters verzog sich zu einem hämischen Grinsen.
„Das mein lieber Sohn, war genau der Punkt. Ich habe mir dieselbe Frage gestellt. Diese Bücher, da auf der Liste. Worin unterscheiden sie sich von den anderen, die da noch ganz unversehrt im Regal stehen. Nächte lang saß ich über der Liste und habe nachgedacht. Bis es mir dann auffiel. Es verschwinden nur die Bücher, an deren erste Lektüre ich mich erinnern kann. Oder daran, wie ich sie wiederentdeckte. Deswegen sind die Bücher, die ich in den letzten Jahren gekauft habe, beinnahe alle verschwunden. Je weiter es in die Vergangenheit geht, desto größer werden die Lücken.“

Das war zuviel für mich. Eine rein zeitliche Abfolge wäre noch nachvollziehbar gewesen. Nachprüfbar, was hieß, ich hätte die Möglichkeit gehabt, meinem Vater seinen Irrsinn irgendwie durch Logik auszutreiben. So aber verschwanden jene Bücher nach einem Schema, das einzig und allein er nachvollziehen konnte. Und solange ich nicht wusste, wo die Bücher abgeblieben waren, blieb mir nur übrig, so zu tun, als würde ich ihm glauben.

„Der nächste, der verschwindet, ist der Somerset.“ sagte er noch.

Dann war es eigenartigerweise monatelang ruhig, und das rätselhafte Bücherverschwinden hörte auf. Ich hatte es schon fast vergessen, bis zu jenem Anruf.
„Der Somerset. Wie ich es vorausgesagt habe.“

Nur einmal hatten wir in der Zwischenzeit noch darüber gesprochen. Mein Vater hatte eine schwere Erkältung und ich verlangte von ihm, im Bett zu bleiben. Missmutig trank er den Kamillentee, den ich ihm kochte. Wenn er Hunger hatte, machte ich ihm eine klare Brühe, die er, leise vor sich hinmaulend, löffelte. Irgendwann sagte er:
„Übrigens, wegen der Bücher. Ich weiß jetzt, was ihr Verschwinden zu bedeuten hat.“
„Jaja, ich weiß, sie verschwinden weil du dich an sie erinnern kannst.“
„Ja, deswegen verschwinden sie. Aber was ich bisher nicht wusste ist, warum sie verschwinden. Warum in dieser Reihenfolge und warum überhaupt.“
„Und, hast du das herausgefunden?“
„Natürlich. Ich beschäftige mich eben mit Dingen, die über die tägliche Lebensbewältigung hinausgehen. Was dir übrigens auch nicht schaden könnte.“
Ich überhörte diese Spitze und wischte ihm mit einem Handtuch den Mund ab, was ihn noch mehr verärgerte.
„Es ist ein Hinweis. Die Bücher verschwinden, weil sie mir damit sagen möchten, dass meine Zeit gekommen ist.“
„Deine Zeit gekommen?“
„Meine Zeit zu sterben. Ja.“
„Und das sagen dir deine Bücher, indem sie eins nach dem anderen verschwinden?“
Obwohl ich merkte, wie ernst es meinem Vater war, konnte ich weder meinen Ärger noch den aufkommenden Sarkasmus unterdrücken.
„Ich habe nicht erwartet, dass du mir glaubst, mein Junge. Du sollst einfach nur vorbereitet sein. Erst wird der Somerset verschwinden. Danach geht’s dann schnell.“

Angesichts des Wahnsinns sucht der Mensch, der sich für normal hält, Schutz im Schatten von Institutionen, denen er vertraut. In diesem Fall einem Arzt.
In der folgenden Woche ließ ich meinen Vater gründlich untersuchen. Mit einem mehr als ermutigenden Ergebnis. Von Demenz keine Spur. Und überhaupt warteten da noch eine ganze Reihe von angenehmen Lebensjahren auf ihn, so die Meinung des jungen aber durchaus kompetenten Mediziners.
„Du wirst schon sehen“, war alles, was mein Vater dazu sagte.

„Eins fehlt noch“, sagte Vater und schlürfte an seinem Bier.
„Und welches ist es deiner Meinung nach?“
„Ich weiß es nicht“
„Wie, du weißt es nicht?“
„An den Somerset kann ich mich genau erinnern. Den hab ich gelesen, damals, als ich in Kriegsgefangenschaft war. Ich war ja einer der wenigen, die englisch konnten. Und einer der Offiziere meinte über gute Literatur wäre das mit der Entnazifizierung am besten zu bewerkstelligen.“
„Ja und, davor? Das war ja nicht das erste Buch, das du gelesen hast.“
„Nein, nein, da gab es viele. Aber die habe ich alle nicht mehr. Da waren die vier, die ich neu binden ließ, aber die sind ja schon weg.“
„Dann könnte es ja durchaus sein“, sagte ich gut gelaunt, weil ich meinte, ihn nun endlich zu haben, „ dass es mit dir doch nicht zu Ende geht. Schlicht und einfach, weil dir die Bücher ausgehen, an die du dich erinnern kannst.“
„Wenn es so einfach wäre…“

Dann fand ein Nachbar meinen Vater tot vor der Haustür liegen. Als Ursache wurde eine Hirnblutung festgestellt. Keine zwei Sekunden hätte es gedauert, sagte man mir, als wäre das ein Trost.
Die Tage bis der Leichnam zur Beerdigung freigegeben wurde, verbrachte ich meist alleine. Trauer, Selbstvorwürfe und eine vollständige Verwirrtheit über den plötzlichen Tod meines Vaters, samt der Tatsache seines Vorauswissens über sein baldiges Ableben erzeugten in mir ein Gefühlschaos, welches ich bald nur noch mit einer gehörigen Menge Alkohol bewältigen konnte. Schließlich aber kam ich zu dem Schluss, dass es eben Dinge gibt, die man nicht erklären kann, die unseren Verstand übersteigen, die man einfach so hinnehmen muss. Nichts anderes blieb mir zu tun, als meinen Vater zu beerdigen, um ihn zu trauern und mein Leben so weiter zu führen, wie zuvor.
Mir fiel wieder der Zettel ein, den mein Vater mir gegeben hatte und auf dem die Wünsche seine Beerdigung betreffend aufgeschrieben waren. Nach langem Suchen fand ich ihn in meinem Nachttisch. Ich erschrak als ich las, er wolle nur im engsten Familienkreis beerdigt werden. Keinen Pfarrer, so seine Anweisungen. Ich solle lediglich am Grab etwas vorlesen. Aus der Bibel.

Eine Bibel hatte ich natürlich nicht. Aber mein Vater mit Sicherheit. Da ich sowieso seine Sachen noch alle sortieren und für die Haushaltsauflösung fertig machen musste, beschloss ich unter seinen verbliebenen Büchern nach einer Bibel zu suchen. Als ich in die Bibliothek kam, der größte Raum des Hauses, gemütlich eingerichtet mit Kamin und Ohrensessel, fiel mir sofort auf, dass die Bücherregale so voll waren, wie ich sie seit je her in Erinnerungen hatte. Ich begann nachzusehen. Da standen die Wahlverwandtschaften, weiter oben die Stadt der Blinden, auf der gegenüberliegenden Seite der Kluge. Auch den Somerset fand ich, sowie alle anderen Bücher, deren Verschwinden mein Vater beklagt hatte.
Schließlich entdeckte ich eine Bibel, die ich verwirrt aufschlug. Auf der ersten Seite stand eine Widmung. Es waren die Worte meiner Großmutter an ihren einzigen Sohn:
„Das erste Buch, das man geschenkt bekommt, sollte das beste sein, das je geschrieben wurde. Mögest du es lesen und es niemals vergessen.“

Ich stellte die Bibel zurück an ihren Platz, setzte mich in den Sessel und betrachtete die Unzahl an Büchern. Dann stand ich auf, holte irgendeines aus dem Regal und begann zu lesen.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert