Die Mitte der Ewigkeit

Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel beschäftigt sich mit so spannenden Themen wie dem praktischen Rationalismus und dem Spannungsverhältnis zwischen subjektiven und objektiven Standpunkten im Hinblick auf Ethik, Moral und Politik. Dem Diskurs mit der Welt, den wir mit Hilfe des Verstandes führen, geht ein innerer Diskurs mit uns selbst voraus, der mit Begriffen wie Klugheit oder Moralität noch nichts anzufangen weiß und somit als subjektivitätsmetaphysisch bezeichnet werden kann. Aus der Auseinandersetzung dieser beiden Wahrnehmungsebenen, die ständig versuchen einander zu verdrängen, entstehen die Prinzipien des Handelns.

1979 erschien Nagels Buch „Letzte Fragen“ (Originaltitel: Mortal Questions), mit Essays über verschiedene Themen, wie das Absurde, Krieg und Massenmord, Gleichheit und sexuelle Perversion. Ebenfalls darin enthalten ist sein berühmter Aufsatz: „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“
Der für mich interessanteste Essay ist gleich der erste im Buch, betitelt: Der Tod. Er beginnt mit der Frage:
„Warum eigentlich ist es schlimm zu sterben, wenn doch der Tod das Ende unserer Existenz ist, unwiderruflich und bis in alle Ewigkeit?“
Das Übel des Todes, so stellt er fest, liegt nicht im Zustand der Nichtexistenz, sondern in dem Herausnehmen aus der Zeit, dem Abschneiden der Zukunft. Um das zu verdeutlichen, führt er einen Gedanken von Lukrez an. Dieser meinte, niemand mache sich Gedanken über seine Nichtexistenz vor der Geburt, also gäbe es auch keinen Grund, über die Nichtexistenz nach dem Tod zu grübeln, da diese nur ein Spiegelbild des Vorherigen sei. Aber, so Nagel, die Zeit nach unserem Tod ist Zeit, die uns geraubt wird. Wären wir nicht gestorben, könnten wir noch leben – der Tod also bedeutet auf alle Fälle einen Verlust, und zwar den an Zeit und Möglichkeiten. Die Spanne vor der Geburt wird nicht als Verlust betrachtet, weil jeder Mensch nun mal nur in dem Moment geboren (besser gesagt gezeugt) werden kann, an dem es passierte. Andernfalls wäre er eben nicht dieser Mensch, sondern einfach ein anderer. So sind die biologischen Gegebenheiten. Es gibt also keine Möglichkeiten für das Individuum vor seiner Geburt. Danach aber gibt es davon unzählige, die der Tod zu irgendeinem Zeitpunkt zunichte macht.

Soweit Nagel. Ich möchte nun dieses Gedankenspiel über die vorgeburtliche Nichtexistenz im Vergleich mit der postmortalen noch ein wenig fortsetzen. Dass das Nichtsein vor unserer Geburt von uns nicht als Verlust betrachtet wird, liegt ja nicht nur daran, dass es einfach eine biologische Unmöglichkeit ist, als der gleiche Mensch früher geboren worden zu sein. Es liegt meines Erachtens vor allem an unserer intellektuellen Fähigkeit, die Vergangenheit als einen Teil unseres eigenen Seins zu betrachten. Das betrifft nicht nur Naheliegendes, wie die eigenen Vorfahren, sondern auch die Geschichte des Landes, in dem man lebt, nicht zuletzt die Geschichte der Menschheit selbst. Die Vergangenheit ist, auch wenn wir sie nicht erlebt haben, dennoch Teil unserer Erfahrung (natürlich beschäftigen sich die Menschen sehr unterschiedlich mit der Vergangenheit, die einen mehr, die anderen weniger, manche vielleicht überhaupt nicht. Aber zumindest in unserer Informationsgesellschaft ist es nahezu unmöglich, ohne jegliche Vergangenheitserfahrung groß zu werden oder zu leben). Die Zeit vor unserer Geburt ist deswegen kein Verlust, weil wir sie aufgrund der Beschaffenheit unseres Geistes nacherleben können.
Mit der Zeit nach unserem Tod verhält es sich naturgemäß völlig anders. Sie ist uns nicht zugänglich. Zwar ist es für viele interessant und anregend sich Zukunftsvisionen auszumalen, Science Fiction Geschichten zu lesen oder als Film anzuschauen. Aber daraus entsteht nie das Gefühl einer Erfahrung oder des wenigstens indirekt beteiligt seins, wie beim Betrachten der Vergangenheit. Um Zukunft als Erfahrung zu haben, muss man sie erleben. Die Nichtexistenz nach dem Tod ist also ein Erlebnisverlust.

Noch etwas kam mir bei der Gegenüberstellung von den beiden Formen der Nichtexistenz in den Sinn: das Problem den Begriff Ewigkeit gedanklich zu erfassen.
Mir wurde als Kind beigebracht, Gott habe schon immer existiert. Unzählige Male habe ich versucht, diese Tatsache zu denken, aber es war nicht möglich. Innerhalb weniger Momente kamen ganz banale Fragen auf wie: Was hat er denn die ganze Zeit gemacht? Und davor? Und vor dem Davor?
Es geht einfach nicht, wir sind in unserem Denken sosehr in der Zeit verhaftet, dass wir allem einen Anfang geben müssen. Es ist ein intellektuelles Verlangen, alle Dinge bis zu ihrem Ursprung, ihrem Beginn zurückzuverfolgen. Daher ist die Existenz eines allmächtigen seit Ewigkeiten existierenden Gottes für viele nicht akzeptabel.
Dagegen macht uns unsere genauso ewige Nichtexistenz vor der Geburt keine gedanklichen Probleme. Auch die Vorstellung, vor dem Urknall gab es keinen Raum und keine Zeit, also irgendwie Nichts, ist leichter zu erfassen, als ein schon immerwährendes Etwas. Nichtexistenz ist in der Zeit vor unserer Geburt für uns also gedanklich zu erschließen.
Durch die Tatsache unserer Existenz, drehen die Dinge sich um. Nun ist die Vorstellung des zukünftig ewigen Nichtexistierens nicht mehr wirklich zu denken. Der Tod nimmt uns aus der Zeit und wir haben für diesen Zustand keine Begriffe mehr. Auch wenn unsere Nichtexistenz vor dem Tod theoretisch ebenso ewig war, ist sie es in unserem Denken nicht, denn sie hatte mit unserer Geburt ein Ende. Dem wird aber, unter Ausklammerung jedweden religiösen Hoffnungen, im Falle der Nichtexistenz nach dem Tod nicht so sein.

Sinn & Form

Gut möglich, dass man bei dem Begriff “Literaturzeitschrift” zuerst an ein buntes Magazin denkt, angefüllt mit Rezensionen neu erschienener Bücher, Kommentaren mehr oder weniger bekannter Schriftsteller und Kritiker, Essays zu aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Themen, Jubiläen und Jahrestagen berühmter Autoren, Stellungnahmen zu Buchpreisverleihungen und einer Menge leserorientierter Werbung. Das alles eifrig bebildert mit Portrait- oder zeitdokumentarischen Aufnahmen, mit Zeichnungen oder Montagen, die alle ihren künstlerischen Anspruch schon beim oberflächlichen Draufschauen geltend machen. Weniger eine Zeitschrift über Literatur, eher ein Informationsblatt des Buchmarktes.

Mit Literaturzeitschriften verhält es sich wie mit Wahlplakaten: Je mehr Text, desto weniger Aussicht auf Erfolg. Zum Glück gibt es bei den Blättern, die sich dem geschrieben Wort widmen keine Fünfprozenthürde. Man muss nur bereit sein, zu bezahlen. Dann erhält man nämlich etwas, was den Titel „Literaturzeitschrift“ wirklich verdient.

Wie zum Beispiel dieses wunderbare Exemplar, das heute in meinem Briefkasten war:Sinn & Form III

 

Auf Sinn & Form bin ich gestoßen, weil ich ein regelmäßiger Hörer des Deutschland Radio Kultur bin. Einmal war Matthias Weichelt zu Gast, der damalige stellvertretende Chefredakteur von Sinn & Form, und sprach über die Themen der neusten Ausgabe. Daraufhin bestellte ich mir das Heft. Ich war begeistert. Sie enthielt einen Essay über Saint-Exupéry, Norman Maneas Gedanken über Cioran, ein Gespräch mit Enzensberger, Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Hilde Domin und Hannah Arendt, Briefe von Klaus Mann, eine Dankesrede von Durs Grünbein und vieles mehr.

Sinn und Form I

Sinn & Form ist auf eine besondere Weise zeitlos, weil sie nicht auf Aktualität ausgerichtet ist. Jede Ausgabe hat einen thematischen Rahmen, der aber so weitläufig gesteckt ist, dass er meist nur schwer zu erkennen ist. Aber gerade das macht die Lektüre niemals langweilig. Man kann sich bedenkenlos ältere Jahrgänge bestellen, die darin enthaltenen Artikel und Texte haben nichts von ihrer Qualität verloren, weil es sich dabei um Literatur handelt und nicht um bloße Stellungnahmen zu gerade durchs literarische Dorf gejagten Säuen.

Sinn und Form II

Und ja, Sinn & Form hat seine Wurzeln in der DDR. Dieses Echo ist auch heute noch zu verspüren, aber nicht in ideologischer Hinsicht, sondern in einer gewissen Affinität zu osteuropäischen Autoren. Inhaltlich lässt Sinn & Form die Vergangenheit nicht ruhen. Sie scheut weder den Rückgriff auf die Nazizeit, noch auf Leben und Schreiben im Kommunismus. In der neuesten Ausgabe finden sich Tagebuchaufzeichnungen über die letzten Tage Ingeborg Bachmanns. Das klingt nach trockener Literaturgeschichte, ist aber lebendige Vergegenwärtigung einer einzigartigen schriftstellerischen Hinterlassenschaft.

Alle zwei Monate erscheint Sinn & Form. Sechs Mal im Jahr kann man also ein Geschenk in seinem Briefkasten vorfinden. Und im Bücherregal fügt es sich ein in ein vielbändiges Dokument literarischen Schaffens und unermüdlicher Geistesarbeit.

 

Vom Meer und vom Land, von Inseln und der Wüste

Wer sich nichts vormachen lässt, irrt umher.

Lacan


Tief ist das Meer des Lebens. Sollte man es nicht unerforschlich nennen?

Flechtet man in dieses Bild nun noch Inseln und Kontinente hinein, dann sind diese Orte des Wissens, des Glaubens, der Zuversicht und der Gefangenschaft. Das Meer ist Leben in Bewegung. Bewegung weg von etwas und gleichzeitig hinstrebend zu Anderem. Vergangenheit und Zukunft. Wer irgendwo ankommen will, muss sich zunächst auf den Weg machen. Nur so viel steht fest: Was hinten liegt, treibt nach vorne. Was dieses Vorne ist, kann der Reisende meist nur erahnen. Solange man unterwegs ist, hat man noch nicht verloren. Am Grunde des Meeres liegen Hoffnungen und Pläne und schauen sehnsüchtig auf die Schiffsbäuche, die über ihnen einherfahren, als gäbe es dieses Unten nicht, an dem sie sich befinden. Manchmal schicken sie Blasen noch oben, wenn sie verwesen oder sich vor Reue krümmen und Schreie ausstoßen. Man sollte oben bleiben, weiterfahren und nur an Land gehen, wenn man sich absolut sicher ist.

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Bei Dante leidet Odysseus im Höllenkreis, der für die falschen Ratgeber vorgesehen ist. Gelehrte und Schriftenforscher (so erzählt es uns Borges) sind sich uneins, ob er diesen Platz seiner List, mit der Troja eingenommen wurde verdankt, oder dem Umstand, dass er seine ihm Getreuen zu einer letzten Fahrt überredete, weit über die Säulen des Herkules hinaus, dorthin, wo noch nie ein Menschen gewesen war. An einem hohen Berg schließlich, der sich weit im Süden aus dem Meer erhob und den die Reisenden zunächst als ihre Rettung ansahen da sie Monate lang auf offener See umhergeirrt und völlig mutlos waren, ereilte sie ihr Schicksal in Form eines gewaltigen Sturmes, der das Schiff sinken und seine Mannschaft ertrinken ließ. Christliche Kommentatoren vermuten, dass es sich bei dem Berg um das Fegefeuer handelte, so wie Dante es beschrieb und die Vermessenheit des Odysseus sich diesem zu nähern, mit dem Tode bestraft wurde. Gott, so scheints, sind die von Menschen aus Neugier unternommenen Fahrten ins Ungewisse (Odysseus selbst sagt zu Vergil, er habe die Reise getan, um Tugend und Erkenntnis zu suchen) nicht recht. Aber auch solche, die aus den falschen Gründen unternommen werden. Als der Prophet Jona den Auftrag erhält, der Stadt Ninive das göttliche Strafurteil zu verkünden, besteigt er ein Schiff, das ihn in die entgegengesetzte Richtung, nach Spanien bringen soll. Voller Zorn lässt Gott das Meer aufkochen, welches sich erst wieder beruhigt, nachdem die Matrosen Jona über Bord geworfen haben. In Welten, die von Göttern bewohnt sind ist das Reisen, zumal auf dem Meer, ein gewagtes Unterfangen und man sollte sich gut mit ihnen stellen. Auch der heilige Paulus erlitt auf seiner letzten Reise Schiffbruch, aber da er mit dem Segen des Herrn unterwegs war, konnten ihm die Elemente nichts anhaben.

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Mitschnitt Interview Samuel T., Projekt: Aussteigergeschichten – Schwerpunkt religiöse Sondergemeinschaften, Betsy Schwindelig, freie Journalistin. 02.02.2019

BS:         Wieso Scham?

ST:          Weil man plötzlich feststellt, wie fragwürdig alles ist, was man all die Jahre geglaubt hat. Nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern auch in intellektueller. Man kommt sich so vor, als hätte man bis zum Alter von vierzig Jahren noch an den Weihnachtsmann geglaubt.

BS:         Sie vergleichen den Glauben an Gott mit dem an den Weihnachtsmann?

ST:          Nicht den Glauben an sich. Viele Menschen glauben an Gott, so wie sie drei Mal auf Holz klopfen. Es ist ein Glaube ohne Eigentümer. Das heißt, die Irrrealität wird anerkannt, aber gerade dadurch kann man daran festhalten. Es kommt nicht zu kognitiven Dissonanzen. Für uns dagegen war alles was Gott betraf real. Jedes Wort in der Bibel wurde für bare Münze genommen. Von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen, über den Sündenfall in Eden, die weltweite Flut, die nur ein mit Tierpaaren gefülltes Boot überstand, Feuer und Schwefel vom Himmel, eine Sonne, die am Himmel stehen bleibt bis hin zu den Geschichten über Jesus und seine Wunder. Und natürlich auch das Ende mit seinen apokalyptischen Prophezeiungen. Alles wahr, alles so passiert – keinerlei Zweifel. Da muss man schon eine gehörige Geistesarbeit leisten, um die täglichen Zusammenstöße mit der Realität ohne Schäden am Glaubensgebäude zu überstehen. Je größer die Anstrengung, desto stärker hinterher das Gefühl der Scham, wenn man feststellt, das Denkvermögen eines Grundschülers hätte ausgereicht um mehr als achtzig Prozent dessen, was man für richtig hielt zu widerlegen.

BS:         Gab es außer der Scham auch noch andere Empfindungen?

ST:          Selbstverständlich. Am Anfang vor allem Zorn und Trauer.

BS:         Auf wen waren sie zornig?

ST:          In erster Linie auf mich selbst. Aber natürlich auch auf meine Eltern, die mir das schließlich eingebrockt hatten. Auch wenn sie überzeugt waren, das richtige zu tun, war es schlicht eine Katastrophe für mich.

BS:         Und die Trauer?

ST:          Die gab es um all die verlorenen Jahre. Ich wollte als junger Mensch gerne studieren. Aber das wurde in der Gemeinschaft nicht gerne gesehen. Alles Intellektuelle war suspekt, hinter jedem Wissen, das nicht von innerhalb der Gemeinschaft stammte, lauerte der Teufel. Ich wurde Handwerker und stellte mich voll und ganz in den Dienst der Gemeinde. Und natürlich empfand ich auch Trauer um meine Familie, die, wie es von der Gemeinschaft erwartet wurde, jeden Kontakt zu mir abbrachen als ich mich von meinem Glauben lossagte. Zum Glück war ich auch in gleichem Maße wütend auf sie, sonst hätte mich die Trauer erstickt.

BS:         Und heute, was ist für Sie heute das vorherrschende Gefühl? Immer noch die Scham? Oder doch eher Trauer? Zorn?

ST:          Neugier. Heute bin ich nur noch neugierig. Sehen sie, es ist, als hätte ich die ersten vier Jahrzehnte meines Lebens auf einer Insel verbracht. Die Leute auf der Insel waren sehr nett, hatten aber Angst vor dem Meer, das sie umgab. Deswegen fuhr niemand zur See, auch wenn im Hafen ein paar Boote lagen. Die Insel war karg und nur mit Mühe konnte man so viel ernten, dass es zum Überleben reichte. Jeden Tag sah ich auf das Meer hinaus, sah all die Schiffe, die an uns vorbeifuhren. Diese seien, so wurde mir erzählt, voller böser Menschen auf dem Weg zu Teufel und Tod. Aber sehr bald käme ein großes Boot und würde uns von der Insel weg in das Land bringen, das alle „Das Paradies“ nannten. Dort würde Glück und Überfluss herrschen. Eines Tages fand ich am Strand eine Flaschenpost. Sie stammte von jemanden, der die Insel viele Jahre zuvor verlassen hatte. Er schrieb: „Nur die, die an Land bleiben, haben Angst vor dem Meer“. Diese Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Und plötzlich begannen die Dinge sich zu verändern. Schaute ich sonst mit Argwohn hinaus auf das Meer, erfüllte mich sein Anblick nun mit Sehnsucht. Jetzt war es die Insel mit ihren Bewohnern, die mir Beklemmungen verursachte. Und so beschloss ich zu gehen. Alle schlugen die Hände über den Kopf zusammen. Zuerst waren sie traurig. Dann wurden sie wütend. Schließlich setzte ich mich in eines der Boote. Ich wusste, ich könnte nie wieder zurück, hatte aber auch keine Ahnung, was mich erwartete. Also ruderte ich los.

BS:         Und wo sind sie am Ende gelandet?

ST:          Ich rudere noch. Zwar habe ich dieses oder jenes Schiff schon bestiegen, habe an einigen Häfen angelegt, aber nirgendwo hat es mich auf Dauer gehalten. Immer gab es etwas, das mich an meine Insel erinnerte und dann wollte ich wieder weg.

BS:         Ist das nicht frustrierend. Nur unterwegs sein und niemals ankommen?

ST:          Vermutlich ist das Unterwegssein mein Ankommen.

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Das Lied „En la muelle de San Blas » der mexikanischen Band Maná handelt von einer Frau, deren Geliebter zu einer Seereise aufbricht. Er verspricht zurückzukehren und sie verspricht auf ihn zu warten. Und so steht sie Tag für Tag an der Mole und erhofft seine Rückkehr. Tausende Monde verstreichen, doch er kehrt nicht wieder. Sie aber steht an der Mole und blickt, weißhaarig mittlerweile, hinaus auf das Meer, in das sie sich längst verliebt hat. Die Bewohner des Hafenortes halten sie für verrückt. Eines Tages beschließen sie, die Frau von der Mole zu holen, um sie ins Irrenhaus zu bringen, aber keinem gelingt es die Frau zu bewegen, da sich ihr Körper mit der Mole verwurzelt hat, damit sie niemand mehr von ihrem geliebten Meer trennen könnte. Und so bleibt sie dort, alleine mit der Sonne und dem Meer. 

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Von Hweda aus stieß die Estralla in See, die karibischen Inseln als Ziel im Blick. An Bord zwölf Mann Besatzung und gut fünfhundert Sklaven als Fracht. Nach zwanzig Tagen geriet man in einen heftigen Sturm, der das Schiff und seine Bewohner schnell an ihre Grenzen brachte. Orlindo, der Steuermann erinnerte den Kapitän an das biblische Wort über Jona und empfahl die schwarze Ladung über Bord zu werfen. Wer weiß, sagte er, wieviel Zauberer wir in unserem Bauch mitschleppen. Der Kapitän, der eher mit den Berechnungen von Gewinn und Verlust vertraut war als mit biblischen Mythen, lachte Orlindo aus. Doch als er sah, wie angsterfüllt die Besatzung war, befahl er dem Steuermann in den Frachtraum zu steigen und aus der Schar der Sklaven zehn auszusuchen, die ihm am ehesten wie Zauberer oder Hexen dünkten. Nun hatte Orlindo noch nie in seinem Leben einen Zauberer oder eine Hexe gesehen, aber in seiner kaum über die Reling des Schiffes hinausreichenden Vorstellungskraft mussten es große und kräftige Männer und Frauen sein. In dem Frachtraum war es dunkel und es stank zum Gottserbarmen. Orlindo leuchtete jeder der Kreaturen mit der Laterne ins Gesicht, besah sich soweit möglich ihre Leiber und traf schließlich seine Wahl. Er ließ einen der Matrosen die Ketten lösen und die vermeintlichen Zauberer, sieben an der Zahl, und Hexen, derer drei, mit einem Strick binden. Derweil nahm der Sturm an Kraft und Geschwindigkeit zu. Orlindo hieß den Soldaten sich zu beeilen. Dann steigen sie unter großen Mühen an das wasserüberspülte Deck, wo die Matrosen sich ängstlich hinter dem Kapitän zusammengekauert hatten. Der besah sich die zehn Sklaven, registrierte ihre ausnehmend gute Gestalt und verringerte in Gedanken seinen Gewinn um eine beträchtliche Summe. Dennoch nickte er Orlindo zu als Zeichen, man solle die Teufelswesen über Bord gehen lassen. Diese hatten sich in der Zwischenzeit aber von ihren Fesseln befreit, ergriffen schnell was immer als Waffe sich darbot und noch ehe einer der Matrosen oder Orlindo oder gar der Kapitän reagieren konnten, waren sie entweder über Bord geworfen oder totgeprügelt worden. Bald darauf legte sich der Sturm. 

Einer der Zehn, der in seiner Heimat tatsächlich ein Zauberer und Heiler war, übernahm das Ruder. Ob er sie wieder nach Hause brächte, fragten ihn die anderen, doch er schüttelte den Kopf. Jeder hier an Bord hätte ein anderes zu Hause und die Häfen wären voll mit Menschen, die sie sofort wieder gefangen nehmen und erneut in Ketten legen würden. Sie mussten, da war er sich ganz sicher, einen anderen Ort finden, fern von allem, was sie bisher kannten oder kennengelernt hatten. Dort würden sie Frieden finden. Wo dieser Ort sei, wurde er gefragt. Er schaute zum Himmel, zeigte auf einen der hellsten Sterne, die zwischen den Segeln hindurchleuchteten und sagte: dieser wird uns dorthin führen.

Wochen vergingen. Der Stern führte sie immer weiter in den Süden. Niemand an Bord war mehr gesund oder guten Mutes. Doch der Zauberer hielt das Steuer. In seiner Heimat war sein Name Xiliranus gewesen. Jetzt aber nannte er sich Nahodna. Eines Morgens, viele waren kurz davor zu sterben oder sich aus Verzweiflung in das Meer zu werfen, sahen sie am Horizont den spitzten Gipfel eines Berges. Jubel brach aus, man verneigte sich vor Nahodna und voller Erwartungen schauten alle in Richtung des Berges, der immer näher zu kommen und immer höher zu werden schien. Nebel dampfte aus seinem runden Gipfel. Ob dieser Berg gefährlich sei, fragte die Frau, die während der ganzen Reise bei Nahodna gestanden hatte und die der Zauberer sehr mochte, war sie es doch gewesen, die mit einem Belegnagel Orlindo den Schädel zertrümmert hatte.  Sie hieß Sali und kam aus der Gegend um Kasch. Ihr Vater war ein König gewesen und sie hatte drei Zugehfrauen, mit denen sie sich gerade am Fluss befand, als die Männer kamen und sie mitnahmen. Die Namen der Frauen waren Ilai, Satafa und Nairè. Sie starben noch bevor man den Hafen erreichte. Erst jetzt, wo Nahodna sie in die Freiheit führte, konnte Sali um ihre Gefährtinnen trauern. Sie tat es, indem sie dem Zauberer nicht von der Seite wich. Dieser hielt nun seinen Blick auf den Berg gerichtet und dachte über Salis Frage nach. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: Nicht für unsere Seelen.

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In einem kurzen Text über Borges aus dem Jahr 1976 schreibt Cioran über sich selbst (er kommt ja immer, egal über wen er schreibt, auf sich selbst zurück. Aber wem ergeht das nicht so?): „Niemals haben mich Denker angezogen, die in einem einzigen Kulturraum eingefangen sind. Keine Wurzeln schlagen, keiner Gemeinschaft angehören – das war und das ist meine Devise. Fremden Horizonten zugewandt, habe ich stets wissen wollen, was sich anderswo abspielte.“ In jeder Gemeinschaft gibt es jemanden, der von der Welt erzählt ohne sie zu kennen und angsterfüllte Zuhörer findet. Die Kultur bangt grundsätzlich um sich selbst. Deswegen braucht sie Schiffbauer. Da nie ein Meer in der Nähe ist, übernehmen Schriftsteller diese Aufgabe und bauen Bücher statt Boote. Reisen wie das Lesen lernen, von Kindheit an. Betrachtet jede Wurzel, die euch an den Füßen wächst voller Zweifel und lauft sie schnell ab. Entgeht, solange es möglich ist, der Gefangenschaft. Verliebt euch in den fremden Horizont. Setzt euch in die Bücher und fahrt los. An Land warten die Nattern auf eure weiche Haut. Ihr Biss verhärtet das Herz und engt den Blick bis zur Blindheit. Bleibt, möchte man den Kindern zurufen, in den Booten und geht nur an Land um zu lernen, nicht um zu bleiben. Hütet euch vor den Inseln mit ihren kurzhalsigen Bewohnern. Vergesst nicht: Es gibt keinen Gott außer Wind und Welle. Alles, was an Land angebetet werden will, hungert nach Blut. Ausnahmslos. Bleibt, möchte man den Kindern zurufen, in den Booten. Das erste Gedicht, das Borges veröffentlichte, 1919 in der Zeitschrift Grecia, hatte den Titel „Hymne an das Meer“.

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Der Urvater der drei großen Monotheismen, Aviram, bestieg niemals ein Schiff. Gesehen wird er das Meer haben, spätestens als er mit seiner Schwestergattin in Zoar (Ägypten) weilte. Vielleicht aber schon früher auf seiner Reise von Haran nach Damaskus. Es gibt Vermutungen, dass er sich für einige Zeit in Ugarit aufhielt. Der Gott aber, den er sich erdachte, war ein Gott der Wüste. Nun mag einem die Wüste wie das Meer vorkommen, grenzenlos, eingerahmt nur von einem Horizont, der in unerreichbar scheinender Ferne über dem Land schwebt und von den Reisenden viel abverlangend, gerne auch das Leben. Was aber der Wüste fehlt, ist das wimmelnde Leben unter seine Oberfläche, der sich unter den Waghalsigen ausbreitende Raum, der immer mitgedacht wird, wenn der Blick hinausgeht über die Oberfläche. Die Wüste ist kompromisslos, grausam und gut. Hier ist nur Platz für einen Gott. Dem Meer würde ein Gott niemals reichen. Es hat seinen Blick nach unten und nach oben gerichtet. Gott liebt die Wüste, das Meer aber liebt den Himmel. Es weiß, jeder der dort oben wohnt, tut dies nur für bestimmte Zeit. Die Wüste lässt seinen Gott weder alt werden noch sterben. Die Götter, die einst die Meere bewohnten sind schon lange tot. Nun müssen Wale und Delfine und Sonnenuntergänge reichen um die metaphysischen Bedürfnisanstalten zu versorgen. Im heißen Sand entsteht immer etwas, das sich wie Religion anfühlt. Das kalte Wasser dagegen schmeckt nach dem Salz der Vernunft und nach grundloser Tollheit. Der Mensch kommt aus dem Meer und Gott aus der Wüste. Dieser Gegensatz ist nur durch Gebot und Gewalt zu überbrücken.

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Seit Samuel das Boot bestiegen hatte und davongerudert war, standen seine Mutter und sein Vater auf der schmalen Mole ihrer Insel und schauten hinaus auf das Meer. Die sie beobachteten sagten, sie trauerten um den Sohn. Andere wiederum behaupteten, die beiden hielten Ausschau nach dem großen Schiff, dessen Ankunft sie so sehnlich erwarteten. Ihr Glaube sei stark und ließe keine Trauer zu. Mehr denn je seien sie überzeugt, jeden Augenblick könne sich die Verheißung erfüllen. Das Leben auf der Insel ging weiter seinen eintönigen und entbehrungsvollen Gang, doch die beiden blieben an der Mole stehen, ergrauten mit jedem Tag mehr. Die Söhne und Töchter, die ihnen geblieben waren, hießen sie, doch in ihr Haus und zu ihrer Arbeit zurückzukehren. Alle brannten und glühten vor Hoffnung, aber das unentwegte Hinausstarren auf das Meer sei selbst für den gläubigsten Menschen nicht gut. Man müsse schließlich auch Geduld zeigen. Die Frau und der Mann jedoch bewegten sich nicht. Eines Tages beschlossen die Vorsteher der Insel, die beiden von der Mole zurück in ihr Haus zu bringen, notfalls mit Gewalt. Als sie sich jedoch anschickten, das alte Paar von der Mole zu holen, mussten sie feststellen, dass die beiden mit den Steinen verwachsen waren und ihrer beider Geist sich irgendwo auf dem Meer verloren hatte.

Die Stadt

In Frankfurt gelandet nimmt man die Autobahn in Richtung Norden, durchquert den Taunus, hangelt sich an den Fransen des Westerwaldes entlang bis man ins Rheintal hinabsteigt und wieder in Richtung Eifel emporklettert; kommt man von Köln, dann schießt man an Bonn vorbei, übers Ahrtal hinaus und durch die hässliche Pellenz; in Hahn aufgesetzt begrüßt einen der Hunsrück und begleitet bis an die Tore von Koblenz, das man allerdings rechts liegen lässt. Am schönsten ist es von Frankreich aus, über Luxemburg und Trier, vorbei an Wittlich und ungebremst durch die pockennarbige Eifel, aus der man schließlich ins Maifeld hineinrutscht. Egal von woher, irgendwann führt der Weg über hergenommene Straßen an Raps- und Maisfeldern vorbei, unter der Autobahn hindurch ins Dorf, die erste Straße rechts, die nächste links, etwa zweihundert Meter, genau in der Kurve ein Holztor, dahinter ein schmales Haus, im Erdgeschoss aus Bruchstein, darüber auch kein junges Gemäuer mehr aber eine stattliche Klematis, die schon die halbe Fassade erobert hat und dort jedes Frühjahr ihr ganz eigenes Feuerwerk entzündet; der Hof gepflastert mit den für diese Gegend üblichen Basaltbrocken, dann durch eine schwere Tür in einen schmalen Flur, eine knarzige Holztreppe hinauf, rechts das Schlafzimmer, geradeaus das Bad ignorierend, nach links und schon ist man in einem geduckten Raum, der sich zwischen dem alten Haus und dem neuen Anbau befindet und in dem meine Bücher wohnen.

Meine Bibliothek ist die Stadt in der ich seit meiner Geburt lebe. Manche Bücher sind Häuser, andere Straßen, manchmal ist ein ganzes Regal das kleinste Zimmer einer unüberschaubar großen Wohnung. Die Häuser und Straßen meiner Kindheit sind mir gut vertraut, ebenso die Orte und öffentlichen Plätze die ich nahezu täglich besuche. Manche Gegenden aber kenne ich nur vom Hörensagen oder kurzen Ausflügen. Ich freue mich jeden Tag darauf, sie bald zu erkunden. Obwohl es diese Stadt erst seit kurzem gibt, ist sie so alt wie die Welt und auch wenn es paradox klingt, nicht ich habe sie, sondern sie hat mich erschaffen (es gibt hier ein Haus, das voller Paradoxien ist und von dem ich demnächst erzählen werde.)

Die Stadt wächst und die Gegenden, die zu erkunden sind, nehmen eine immer größer werdende Fläche ein. Das ist manchmal verwirrend und immer herausfordernd. Umso mehr genieße ich die Spaziergänge durch die Gässchen und über die Plätze, die mir an Herz gewachsen sind, sitze in den Parks und Gärten, die meine Stadt zu einer schönen machen, beobachte das schon oft Beobachtete und erfreue mich an den Kleinigkeiten, die mir bisher entgangen sind.

In den Gassen der Kindheit gibt es Häuser, die zu betreten mir nur mit einem galligen Lächeln möglich ist. Wie konnte man dort wohnen und sich auch noch wohl fühlen? Wie können heute noch Menschen dort wohnen? Die eigene Familie zumal? Die Bibliothek beherbergt meine Geschichte und das ganz ungewollt. Aber gerade weil es so zufällig erscheint, kann es genau das nicht sein. Und dem möchte ich nachspüren, möchte die Stadt ablaufen, die Straßen erkunden und mich in die Häuser begeben. Um mir selbst dort zu begegnen. Und um zeigen, warum jedes dieser Gebäude und Straßenzüge auf ihre ganz eigene Art und Weise schön ist und wert, besucht zu werden. Oder, warum man besser einen großen Bogen um sie macht.

That’s what I do

Gestern hätte ich mir beinahe ein T-Shirt bestellt mit dem Aufdruck: “That’s what I do. I read books and I know things.“ (Ich habe gegoogelt, woher der Spruch kommt, aber außer Shopping-Seiten, die Shirts mit dieser Aufschrift anbieten und jemanden, der in einem Forum behauptete, Tyrion Lanister hätte diesen Satz in zwei Game of Thrones Folgen gesagt – und von anderen Forumsteilnehmer widerlegt wurde, weil er wohl tatsächlich sagte: I drink and I survive – habe ich nichts gefunden. Auf dem T-Shirt war ein Hase zu sehen, weshalb ich annahm, vielleicht sei es ein Zitat aus Alice im Wunderland, ein Gedanke dessen Abwegigkeit ich nicht einschätzen kann, da ich Alice im Wunderland nie gelesen habe.)

Bevor ich den Bestellbutton anklickte wurde mir aber bewusst, warum ich diesen Spruch so gut fand. Er sagt nichts davon, dass man auch über das Gelesene sprechen würde. Eine mir zutiefst sympathische Selbstgenügsamkeit liegt in jenem „…and I know things“. Es ist frei von jedwedem Überzeugungseifer. Natürlich liegt darüber auch ein Hauch von Arroganz aber wer sagt, die Tatsache etwas zu wissen gehe auch mit der Verpflichtung einher, mit anderen dieses Wissen zu teilen bzw. sie von der Richtig- und Wichtigkeit der gelernten Dinge zu überzeugen? Vor allem, weil das Wissen, das man in Büchern finden kann, jedem, der des Lesens mächtig ist, zugänglich ist.

Mich erinnerte das an eine Szene aus dem Film „Saving Private Ryan“ von Steven Spielberg. Kurz vor der letzten Schlacht unterhält sich der von Tom Hanks gespielte Leutnant mit jenem Privat Ryan, den sie auf Befehl von ganz oben sicher nach Hause bringen sollen. Der junge Mann erzählt dem Leutnant von seinen Brüdern (die alle schon im Krieg gefallen waren) und wie sie das letzte Mal alle zusammen gewesen waren. Dann fordert er den Leutnant auf von dessen Familie zu erzählen, doch dieser sagt nur: „Nein. Das behalte ich lieber für mich.“

Die Weigerung seine Erinnerungen in diesem Moment zu teilen, hatte nichts mit der Person des jungen Soldaten zu tun, sondern mit dem Wert, die sie für den Leutnant hatten und der Überzeugung, dass sie, würde er sie unter diesen Umständen teilen, an Kostbarkeit verlören weil plötzlich etwas Fremdes an ihnen haftete, auch wenn der Soldat nichts darauf erwidert hätte.

Ein T-Shirt mit diesem Aufdruck zu tragen, so dachte ich mir, wäre ein Widerspruch in sich selbst, würde es aus jenem selbstzufriedenen „I know things“ doch wieder ein Statement machen, eine Einladung zum Dialog, den man ja eigentlich verweigert. Also drückte ich den Bestellbutton nicht (es gab noch eine Tasse mit derselben Aufschrift, die aber kostete fast 20 Euro und für das Geld kann man sich ja schon wieder ein oder zwei Bücher kaufen. Außerdem würde ich diese Tasse nur zu Hause verwenden – nähme ich sie mit auf die Arbeit würde ja wieder ein T-Shirt daraus – nur für mich sozusagen und damit zur reinen Selbstbestätigung, die ich nur dann nötig hatte, wäre ich nicht von meiner Meinung überzeugt und müsste jeden Morgen durch eine Tasse ihre Richtigkeit vor Augen gehalten bekommen).

Über Jahre hinweg überlegte ich schon oftmals beim Lesen, wie ich über das Gelesene schreiben könnte, wie neu gewonnene oder schon länger erworbene aber durch die momentane Lektüre erneut bestätigte Ansichten an den Leser gebracht werden könnten. Das tat ich dann auch in meinem Blog, in verschiedenen Foren und sozialen Medien, immer in der Erwartung auf eine Reaktion und mit der Bereitschaft, den eigenen Standpunkt zu verteidigen. Ein, wie ich irgendwann feststellte, sehr ermüdendes und nutzloses Unterfangen. Einzig der Austausch im kleinen Kreis, unter Menschen, die man entweder virtuell, besser aber noch persönlich näher kennengelernt hatte war (und ist nach wie vor) wirklich wertvoll, lag ihnen doch nichts an dem allerorts zu findenden rhetorischen  Kräftemessen, jenem infantilen Meinungspingpong, bei dem es nicht darum geht, den zugespielten Ball zu retournieren, sondern mit jedem Schlag einen neuen Ball ins Spiel zu bringen und, noch bevor dieser übers Netz gegangen ist, die Arme hochzureißen und laut „gewonnen“ zu rufen.

Besser also schweigen? Nicht unbedingt. Zu schreiben und das Geschriebene öffentlich zu machen bedeutet nicht zwangsläufig eine Einladung zum Dialog mit dem Autor, von Facebook, Twitter, Kommentarspalten einschlägiger Nachrichtenseiten und Postings in massenfrequentierten Foren einmal abgesehen.  Aber hier, abseits von den virtuellen Großstädten mit ihrem Getümmel von Selbstdarstellern, Meinungsverkäufern und Zeitgeisterfahrern, von Proselytenmachern und Auf- und Untergangspropheten, wo die Straßen so eng und leer sind, dass keine Sau hindurchzujagen sich lohnte, ist Platz für die Art von Gespräch, die der Mühe des Schreibens wert ist: Das Selbstgespräch des Autors, der sich durch das Schreiben dessen vergewissert, was ihm als Destillat des Gelesenen, Gelernten und Erlebten als Meinung, Schlussfolgerung, Weltsicht etc. im Kopf umherschwimmt und manchmal erst durch Formulierung feste und greifbare Gestalt annimmt.

Mit viel Glück hat er Leser, die dieses Selbstgespräch als Anlass nehmen, mit sich selbst in einen Dialog zu treten. Mit noch viel mehr Glück erzählt der Leser dem Autor von diesem Dialog. Vielleicht aber reagiert der Leser wie der Leutnant aus „Saving Private Ryan“ und sagt: „Das behalte ich lieber für mich.“

Das hat aber keine Auswirkung auf mich als Schreibenden, denn das Schreiben ist nur etwas, das aus etwas anderem, größerem folgt. Nämlich Bücher zu lesen und Dinge zu wissen.